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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Stübchen in einen Bazar umgewandelt. Auf allen Möbeln lagen die herrlichen Roben ausgebreitet, mit denen sie als Robert’s glückliche Braut überreich beschenkt worden war. Alle Farben zeigten sich vertreten. Mit allen Zeichen des Schreckens blieb die alte Dame an der Thür stehen, faltete die Hände und zitterte mühsam die Frage: „Aber was treibst Du, Kind –?“ heraus.

Helene gelang es nicht sonderlich, den Ton der Unbefangenheit festzuhalten, als sie antwortete: „Ich suche mir ein Kleid zum Polterabend aus, Mamachen, und krame deshalb alle meine Schätze vor. Es ist eigentlich überflüssig, da ich schon vorher mit mir ganz einig war.“

„Aber wie konntest Du überhaupt im Zweifel sein?“ fragte die Frau Consul, die sich die letzten Worte günstig auslegte. „Wir Beide, denke ich, sind ein für allemal entschuldigt, wenn wir auch freudigen Ereignissen gegenüber an der Farbe der Trauer festhalten.“

„O Mama!“ rief das Mädchen, „mit mir ist’s doch etwas anderes. Ich bin jung und gehöre zur Jugend. Die Jugend aber will an einem lustigen Polterabend nicht daran erinnert sein, daß Freude sich rasch in Leid wandeln kann. Ich habe mir’s überlegt, daß ich’s dem Brautpaar, den Gästen – wenn Du willst, auch mir selbst schuldig bin, die Umstände zu berücksichtigen. Natürlich kann von der Wahl heiterer Farben nicht die Rede sein. Aber Du bist gewiß einverstanden, wenn ich ein weißes Kleid wähle und mich auch sonst ganz mit Weiß schmücke. Selbst Nonnen tragen ja weiße Gewänder.“

Der alten Dame fingen die Backen an zu glühen, und die zornige Aufwallung machte sich auch in der Stimme bemerkbar. „Weiß oder Roth! Es ist in diesem Falle ganz gleich. Sei ehrlich! Der Polterabend ist Dir nichts als ein Vorwand, endlich die verhaßte Trauer los zu werden. Schon lange trauerst Du nicht mehr im Herzen. Geh, geh! Du hast meinen Sohn nie geliebt!“

Diese heftigen Vorwürfe verfehlten ihre Wirkung. Helene setzte sich trotzig zur Gegenwehr, überzeugt, daß ihr Unrecht geschehe. „Sprich nicht von der Vergangenheit,“ sagte sie. „Robert ist glücklich gewesen – ich will mir kein Verdienst zurechnen, aber Robert ist glücklich gewesen durch mich. Ob ich ihn geliebt habe, das weiß nur Gott. Ich gab ihm mein ganzes Herz, so weit ich es selbst verstand. Und noch immer empfinde ich’s als einen Schmerz, daß ich ihn verloren habe. Nie kann ich ihn vergessen! Aber lebendig todt mag ich nicht sein. Schmähe mich deshalb, wie Du magst, ich werde nicht geringer von mir denken.“

Frau Berghen lenkte ein. „Es ist, wie es ist,“ sagte sie, traurig den Kopf senkend, „die Menschen sind sich alle gleich. Unter Millionen leistet einmal einer etwas Ungewöhnliches, das doch das Gewöhnliche sein sollte. Ist es möglich, daß eine so geringfügige Sache, wie ein Kleid, uns entzweien kann? Wenn Du nun weißt, daß eine alte Frau, die Du doch liebst und ehrst, als eine Kränkung empfindet, was Dir höchstens eine unbedeutende Befriedigung der Eitelkeit ist – sollte das nicht schon Beweggrund genug sein, von Deinem Vorhaben abzustehen und Dich ihren Wünschen zu fügen?“

Helene begriff sehr wohl, was Nachgiebigkeit in diesem Augenblick bedeutete. Aber sie traute sich auch nicht die Festigkeit zu, durchgreifen und ihr Stück behaupten zu können. „Wenn Du’s so nimmst …“ sagte sie unmuthig, „gut! Das weiße Kleid soll Dir kein Aergerniß bereiten. Aber auch das schwarze soll Niemand die Festfreude verkümmern: ich werde zu Vera’s Polterabendgästen nicht gehören.“

Davon wollte nun freilich die Frau Consul nichts wissen. Aber ihr Zureden war doch nicht einmal besonders dringlich. „Wie Du willst, liebes Kind,“ sagte sie endlich, „Du hast ja noch Zeit, Dir’s zu überlegen.“

Damit küßte sie ihre Stirn und ging. Helene suchte ihren Aerger zu verbeißen. „Ihr seid Alle nur auf Euch bedacht,“ murmelte sie in sich hinein, „und habt nicht einmal einen greifbaren Nutzen davon. Es ist Euch eine Genugthuung, daß ich unglücklich bin: der Todte soll sein Opfer unter den Lebenden haben. Wenn sich mir noch einmal etwas Frohes ereignete, Euch wär’s ein Dorn in’s Fleisch. Aber seid ruhig, seid ganz ruhig! Mein Glück wird Euch nicht kränken! Ich habe nicht einmal Wünsche, die Euch besorgt machen dürften.“

Ihre Stimmung wurde sehr schwermüthig, als sie alle die bunten Fähnchen wieder bei Seite schaffte, und sie blieb es auch in den folgenden Tagen. Meist war sie mit sich allein. Als nun der Polterabend herankam, schloß sie sich wirklich auf ihrem Zimmer ein und ließ sich auch durch Vera nicht herauslocken, so gefällig sie ihren Festanzug bewunderte.

Es kamen doch recht schwere Stunden. Nicht daß sie starke Sehnsucht empfunden hätte, an Tanz und Spiel da unten Theil zu nehmen. Aber sie konnte doch auch nicht von da hinwegdenken; es mahnte sie fortwährend, nun sei’s für alle Zeit mit Spiel und Tanz zu Ende und dürfte doch nicht zu Ende sein. Die Unruhe des Festabends drang bis zu ihr. Die nächsten Zimmer waren zu Garderoben eingeräumt. Sie hörte die Damen, die dort ihre Toilette ordneten, laut sprechen und lachen. Dann rauschten die seidenen Schleppen vorüber. Unter ihr im Saale wurde es lebhaft. Aus ihren Fenstern sah man in den Garten. Dort brannten Hunderte von Lampions. Bengalische Flammen wurden angezündet und färbten das Laubdach der Bäume roth, blau und weiß.

Die Aufmerksamkeit wurde fortwährend dahin abgelenkt. Sie ließ die Vorhänge herab, aber trotz der Lampe auf ihrem Tische machte sich der Wechsel des Lichts bemerkbar. Die Musik spielte lustig auf. Von Zeit zu Zeit, nach gelungenen Aufführungen, wurde laut gelacht oder geklatscht und Bravo gerufen. Helene hatte ein Buch aufgeschlagen und schien auch eifrig zu lesen. Aber die Blätter wurden selten gewendet, und der Blick, der sich darauf heftete, war starr. Sie hatte die Ellenbogen aufgestützt und die Fingerspitzen in die Ohrmuscheln gelegt – es half doch nichts; sie hatte keine Ruhe bei sich selbst.

Sie sprang auf und ging mit raschen Schritten durch das Zimmer. In den Spiegel warf sie einen flüchtigen Blick im Vorbeigehen. Die Backen glühten ihr, als ob sie getanzt hätte. Sie kam sich recht häßlich vor. Auf dem Wege zurück wendete sie absichtlich das Gesicht ab. Sie wiederholte den Gang auch nicht wieder, sondern setzte sich in einen tiefen Lehnstuhl, streckte den Kopf zurück und träumte zur Decke hinauf. Ob mich doch einer vermissen wird? Einer! Wer? Erst war’s wirklich kein Bestimmter. Irgend einer. Es wäre ihr eine Wohlthat gewesen, wenn sie’s gemußt hätte. Dann schien doch die Frage nicht mehr so ganz gleichgültig: wer? Der Kreis zog sich enger und enger. Der und der und der … was mache ich mir daraus? Es blieben noch ein paar Menschen, auf deren Vermissen sie eine Art von Anspruch hatte. Die Gestalten huschten vorüber. Vom Garten herauf scholl wieder ein vielstimmiges Beifallrufen, und gleich darauf setzte die Musik mit einem Tusch ein. Wer hat Zeit an Dich zu denken?

Ob doch Walter gekommen sein mag? Er konnte an diesem Tage kaum fehlen. Was sollte er nur davon denken, daß sie sich gar nicht blicken ließ? Ah! Wahrscheinlich hatte die Mama entschuldigend von einem Unwohlsein gesprochen, auch ohne daß er sich nach ihr erkundigte. Gefragt hatte er sicher nicht. Oder so beiläufig. Sie konnte sich vorstellen, wie?

Die kleine Stutzuhr auf der Spiegelconsole schlug zehn. Es ist Zeit zum Schlafengehen. Die Decke über den Kopf!

Sie erhob sich langsam und müde im Stuhl. Da klopfte es leise an die Thür. Nun zuckten die Hände, die auf den Seitenlehnen lagen. Ihr erster Gedanke war: Walter.

Lächerlich! Wahrscheinlich hatte die Frau Consul eins von den Hausmädchen geschickt, sich zu erkundigen, ob ihr das Abendessen hinaufgebracht werden solle. Helene stand auf und trat an die Thür. „Wer ist da?“ fragte sie.

Statt der Antwort erfolgte ein neues Klopfen. Es war ihr, als ob sie ein leises Kichern vernahm. Nun drehte sie den Schlüssel um. In demselben Augenblicke öffnete sich auch schon die Thür. Eine männliche Gestalt trat auf die Schwelle.

„Herr von Brendeln!“ rief sie sehr erschreckt. „Was in aller Welt wollen Sie?“

„Mich durch den Augenschein überzeugen, daß Sie nicht krank sind,“ sagte er.

„Aber das ist unschicklich – bleiben Sie!“ bat Helene. Sie versuchte, die Thür wieder zu schließen. Es gelang nicht.

„O!“ sagte er, „ich komme nicht allein. Meine Schwester, die zum Feste hergekommen ist, brennt vor Verlangen, Sie kennen zu lernen. Wollen Sie ihr gütigst erlauben …“

Er schob eine junge Dame vor, die seitwärts gestanden hatte und von Helene bis jetzt nicht bemerkt war.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 711. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_711.jpg&oldid=- (Version vom 27.1.2024)