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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

persönliches ist, auch eine freie, historische Prüfung der Ueberlieferung jederzeit vorbehält[1] und, auf eine lebendige Ueberzeugung gestützt, jedem äußeren Autoritätszwang gegenüber immer wieder die Antwort geben muß, welche damals Luther dem Kaiser sammt dem um ihn versammelten Reichstag und damit auch dem Papst und allen Concilien in unbeugsamem Muthe ein für alle Mal gegeben hat: „Ich kann nicht anders!“[2]

Karl V. freilich wußte damals in stolzer Vornehmheit über den unscheinbaren deutschen Mönch nichts Besseres zu sagen, als „der hätte mich nicht zum Ketzer gemacht!“ Wenn er es aber auch später bereut haben mag, ihn damals nicht dem Henker übergeben zu haben, so gab er ihm doch jetzt, einem ritterlichen Anstandsgefühle folgend, noch freies Geleite zur Heimkehr, schickte ihm aber sofort einen in den herbsten Ausdrücken abgefaßten und zudem fälschlich am 24. Mai auf den 8. Mai zurückdatirten Achtbrief auf dem Fuße nach.

So war denn Luther jetzt von der geistlichen und weltlichen Obrigkeit aller menschlichen und christlichen Gemeinschaft unwürdig erklärt; ihn todt zu schlagen war kein Verbrechen mehr, sondern eher ein Verdienst vor Gott, das sich nebst einigen römischen Goldgülden wohl mancher zu verdienen getraut hätte, wenn nicht Friedrich der Weise ihn am 4. Mai hätte aus der Welt verschwinden und heimlich auf die Wartburg bringen lassen.

Vom 4. Mai 1521 bis 1. März 1522 durchlebte Luther als „Junker Georg“ auf der Wartburg äußerlich gar stille und doch geistig überaus bewegte und durch unermüdliche literarische Thätigkeit höchst arbeitsreiche Tage.

Hier begann er sein wichtigstes Werk: die deutsche Bibelübersetzung, welche er im Laufe der folgenden dreizehn Jahre mit Hülfe vieler gelehrter Freunde vervollkommnet und zu Ende geführt hat. Auch dazu, wie zu seinen anderen literarischen Arbeiten, namentlich den sogenannten Postillen, war er von Anderen, besonders von seinem Erfurter Freund Lange, der bereits selbst das Mätthäus-Evangelium im Sommer 1521 in deutscher Sprache herausgegeben hatte, gedrängt worden. Er begann naturgemäß mit dem Wichtigsten, dem Neuen Testament, das er auch auf der Wartburg vorläufig zu Ende brachte. Er benutzte dazu die neueste kritische Textausgabe des Erasmus und eine oder mehrere der bereits zahlreich vorhandenen deutschen Uebersetzungen. Aber sein Meisterwerk überragte und verdrängte diese alle, nicht blos durch das zunehmende persönliche Ansehen des Mannes, sondern auch durch die ungemein geniale Auffassung der biblischen Autoren, die seltene Kunst und Kraft der Sprache, die Knappheit und Treue des Ausdrucks und durch das gewissenhafteste Zurückgehen auf den griechischen Urtext. Jene früheren Uebersetzungen waren nämlich alle lediglich aus der lateinischen Vulgata geflossen.

Was neben dieser für die Geschichte der deutschen Literatur geradezu grundlegenden Bibelübersetzung die übrigen deutschen Schriften Luther’s betrifft, so lassen diese die bei der Bibelübersetzung überall erkennbare große Sorgfalt des Stils und eine kunstvolle Anlage und Ausführung mehr oder weniger vermissen. Luther arbeitete – abgesehen von jener Uebersetzung und etwa einigen Liedern – eigentlich nie als Schriftsteller in unserem Sinne. Ihn erfüllte bei der Abfassung seiner Zeit- und Streitschriften – denn das waren sie ja fast alle – die Sache, um die es sich jedes Mal handelte, so übermächtig, daß er in großer Erregtheit seine Gedanken niederschrieb, ohne lange zu disponiren, umzugestalten und an der Form zu feilen; es scheint sogar, daß er von vielen seiner Schriften nicht einmal eine ordentliche Correctur besorgte, sodaß manche Stellen in vollem Dunkel schweben.

Das ist begreiflich, wenn man bedenkt, daß er selbst seinen meisten Schriften keinen bleibenden literarischen Werth zuschrieb und überhaupt der Meinung war, „viele Bücher machen nicht gelehrt, viel Lesen auch nicht, sondern gute Dinge, und diese oft lesen, so wenig ihrer auch sind, das macht gelehrt und fromm dazu. Aller Lehrer Schriften sollten nur eine Zeit lang gelesen werden, um dadurch in die heilige Schrift zu kommen“. Sein geschriebenes Wort sollte lediglich dem Augenblicke dienen und nicht im Sinne der Humanisten ein bleibendes, zierliches Denkmal seiner künstlerischen und gelehrten Bildung, seines Geschmackes und seines Wissens sein.

Deshalb ist es ihm zu glauben, daß er es ungern sah, daß man 1539 auf eine Gesammtausgabe seiner Schriften hinarbeitete. Schließlich hat er es freilich eingesehen, daß er das zu verhindern kein Recht habe, er hat sogar eine Vorrede dazu geschrieben, sich aber um das Weitere offenbar nicht gekümmert. Aus dieser Vorrede, voll des köstlichsten Humors und der feinsten Ironie, mag hier eine überaus charakteristische Stelle folgen:

„Da ich’s nun nicht wehren kann und man meine Bücher, mir zu geringer Ehre! sammeln will, tröste ich mich deß, daß mit der Zeit meine Bücher doch werden im Staube vergessen sein – sonderlich, wo ich durch Gottes Gnade etwas Gutes geschrieben habe! ‚Non ero melior patribus meis‘ – ich werde nicht besser sein, als meine Väter (1 Kön. 19, 4). Das andere wird wohl noch am längsten bleiben! Es ist gute Hoffnung, sonderlich weil es hat angefangen zu schneien und zu regnen mit Büchern und Meistern, von denen schon so viele vergessen daliegen und verwesen, die freilich gehofft, sie würden ewiglich aus dem Markte feil sein und die Kirche meistern.“

Vom Jahre 1520 an ist Luther noch fünfundzwanzig Jahre an der Spitze der deutschen Reformbewegung gestanden. Aber wenn dieselbe bis dahin ganz und gar mit seiner persönlichen Geschichte zusammenfiel, so wird sie doch nun mehr und mehr zu einer tiefgreifenden Bewegung des ganzen deutschen Volkes. Am Fuße der Wartburg war gleichsam der stürmische, Alles mit sich reißende Bergstrom, der von den Schloßthüren in Wittenberg ausgegangen war und Aller Augen auf sich gezogen und Hunderte und Tausende mit sich gerissen hatte, plötzlich unter der Erde verschwunden. Aber bald sah man rechts und links an allen Orten neue Quellen und Bäche desselben Wassers entspringen und weiter stürmen und selbst in dem von Luther befreiten Wittenberg so mächtig überschäumen, daß er eiligst wiederkehren mußte, um den verderblichen Uebereifer mit allem Ansehen seiner Person und aller Kraft und Besonnenheit seines Geistes wieder einzudämmen.

Die Geschichte dieser fünfundzwanzig Jahre ist deshalb nicht mehr in der einfachen Form der Lebensbeschreibung des einen Reformators darzustellen. Hier aber, wo es sich nicht um eine Darstellung der Reformation selbst, sondern nur um ein Charakterbild des Reformators zu seinem Jubelfeste handelt, können wir uns von nun an um so kürzer fassen.

Bis zum Tag von Worms hatte sich die ganze Reformbewegung so ausschließlich an die Person Luther’s geheftet, daß Aller Augen und Ohren nur auf ihn gerichtet waren. Sein Streit mit Rom war gleichsam ein Schauspiel, an dem man mit tiefinnerlicher Bewegung, aber doch eigentlich nur als eifriger Zuschauer Antheil nahm. Jetzt aber war Luther mit einem Male von der Bühne abgetreten: da mußte ein Jeder mehr an sich, an seine Stellung zur Sache selbst denken und es immer mißlicher empfinden, daß man zwar evangelisch dachte und glaubte, aber seinen Glauben noch ganz in den altgewohnten römischen Formen äußerte. Dieser Widerspruch konnte auf die Dauer unmögljch bestehen. So machten denn in Wittenberg Luther’s Klosterbrüder den Anfang einer praktischen Reform, indem sie zunächst das Klostergelübde nicht nur theoretisch für hinfällig erklärten, sondern auch zum größeren Theil (dreizehn Brüder) in das bürgerliche Leben zurücktraten. Die Zurückgebliebenen aber gingen an die Reform des Gottesdienstes, indem sie den Meßgottesdienst einstellten, worauf die Studenten sogar nicht ohne die Theilnahme einzelner Lehrer auch in den anderen Kirchen die Abhaltung der Messe mit Gewalt verhinderten; Andere aber räumten tumultuarisch die Heiligenbilder aus den Kirchen, und mit dem Neujahr 1522 führte Dr. Karlstadt unter dem Zuströmen von Tausenden an die Stelle der lateinischen Messe erstmals das deutsche Abendmahl ein, legte dem Rath und der Universität eine evangelische Gemeinde-Ordnung vor und verlobte sich mit einer ehrbaren Jungfrau. Diese Wittenberger Vorgänge wiederholten sich aber gar bald auch an anderen Orten.

Um so eifriger aber regten sich nun auch die Gegner dieser


  1. Vergleiche: Luther’s Reformationsvermächtniß an uns und unsere Zeit. Vortrag zur Luther-Feier des vierzehnten deutschen Protestantentages von Emil Zittel. Berlin 1883. Haack.
  2. Nach einem Berichte aus dem Jahre 1581 hätten die Schlußworte Luther’s gelautet: „Die Concilien können und haben geirrt: das liegt am Tage und ich will’s beweisen. Gott, kumm mir zu Hilf, Amen! Da bin ich.“ (Evangelische Ausgabe. Band 64. Teile 383.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 735. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_735.jpg&oldid=- (Version vom 20.1.2024)