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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

oder Staaten, nach und nach bis zu der gewinnbringenden Mannigfaltigkeit entwickelt, als welche es lange Zeit als eine moralische und volkswirthschaftliche Pest in vielen Ländern wirkte und in einigen noch wirkt.

Das Spiel steigert sich in folgender Weise. Wählt der Spieler eine Nummer, ohne die Stelle zu bestimmen, welche sie unter den fünf gezogenen Nummern einnehmen soll, so gewinnt er, wenn sie „kommt“, einen „Auszug“, das heißt der Einsatz wird 15 Mal zurückbezahlt. In Süddeutschland betrug der Einsatz 1 Kreuzer, der Gewinn also 15 Kreuzer. Bei bestimmter Nummerstelle (z. B. 52 als dritte der fünf gezogenen Nummern) heißt der Gewinn „bestimmter Auszug“ und beträgt das 75-fache des Einsatzes. Bei dem Treffen oder Herauskommen von 2 Nummern, „Ambe“, wird der Einsatz 240 Mal, bei 3 Nummern, „Terne“, 4800 Mal, bei 4 Nummern, „Quaterne“, 60,000 Mal wieder bezahlt. Wenn bei diesen Amben, Ternen und Quaternen nicht alle Nummern „herauskommen“, wird für die herausgekommenen dem Spieler kein Gewinn zu Theil, wenn er sie nicht noch besonders als einfachen oder bestimmten Auszug gesetzt hat. Quinternen werden, wegen der Unwahrscheinlichkeit des Treffens, wohl höchst selten gesetzt, gewonnen wurden sie wenigstens, so viel bekannt ist, niemals.

Die verführerische Größe dieser Gewinnzahlen ist das Verderblichste für das Volk, und darum werden auch Amben und Ternen am meisten gesetzt; wie gering aber die Aussicht auf den Gewinn sich herausstellt, ergiebt eine Berechnung, von welcher wir für unsere Leser nur das Facit mittheilen, daß die Lotto-Unternehmung auf die Gewinnsumme, die sie dem Spieler zahlt, von der Ambe mit 1601/2%, bei der Terne um 1443/4%, bei der Quaterne sogar um 751% in Vortheil ist.

Diese Rechnung erklärt uns die Möglichkeit, daß Baiern in einem Jahre (1853) über 3 Millionen Gulden aus seinem Lotto gewann, daß in Oesterreich von 1868 bis 1876 die Rein-Einnahme des Lotto 51 und die Brutto-Einnahme 136 Millionen Gulden betragen konnte, und daß in Italien diese Spielsteuer dem armen Volke jährlich 70 Millionen Lire ohne die sehr bedeutenden Verwaltungsausgaben kostet.

Ueber die volkswirtschaftliche Schädlichkeit des Lotto wie der Lotterie, durch welche jährlich Millionen den Unternehmungen des Fleißes und dem Familienhaushalt entzogen werden, ist schon ebenso viel geschrieben worden, wie über den moralischen Verderb in ganzen Volksclassen. Ehe das Lotto in Deutschland (dem jetzigen deutschen Reiche) ausgehoben war, hatten wir dies in hohem Grade mit zu empfinden. Wie viel Familienglück ist damals zu Grunde gegangen, wenn der Mann oder die Frau, oder gar beide vom Lotto-Teufel besessen waren! Vergeblich rächte sich der Volkswitz an dem unheilvollen Institute. Der Verfasser hat in seiner Jugend das Lotto in seiner Vaterstadt noch in voller Blüthe gesehen. Jeden Montag kamen die Lotto-Boten, auch des nahen Auslandes, trotzdem dort das Spielen in diesem Lotto bei Zuchthausstrafe verboten war, stromweise in die Stadt und füllten, mit den einheimischen Spielern, von Nachmittags drei Uhr an den geräumigen Marktplatz. Die Ziehung geschah auf dem Rathhause. Unter einem Fenster des Lotto-Zimmers hing eine große schwarze Tafel zur Aufsteckung der fünf Nummern. Eine mächtige Erregung durchlief schon die Massen, wenn gegen vier Uhr der Waisenknabe, welcher die Nummern aus dem Glücksrade zu ziehen hatte, über den Markt zum Rathhause geführt wurde. Um vier Uhr begann die große Feierlichkeit. Ein Zeichen aus dem betreffenden Fenster des Rathhauses verkündete den Beginn derselben. Lautlose Stille auf dem ganzen Markplatze. Sobald der arme Junge, in ein weißes Gewand gehüllt und mit verbundenen Augen, die erste Nummer aus der vorher umgerollten Trommel des Glücksrades gezogen hatte, wurde diese aus dem Fenster erst ausgerufen und dann auf die Lotto-Tafel gesteckt. Ein Gemurmel ging durch die Menge; bei der zweiten Nummer wurden Ausrufe Einzelner laut, denen stets das Gelächter der Umstehenden folgte. Bei der dritten Nummer hörte man aus vielen Stellen zugleich den allzu lauten Stoßseufzer: „O, ich Ochs, hätte ich doch“ etc. Das Gelächter verschlang den selbstverständlichen Schluß. Diese Selbstverleugnung mehrte und verstärkte sich nun bis zum Ende, wo zahllose „O, ich Ochs, hätte ich die Nummer gesetzt“ zum Ausbruche kamen. Die auswärtigen Lotto-Boten rannten zuerst davon, dann leerte sich langsam der Platz. Im Volksmunde hieß aber diese allmontägliche Lotto-Brüder- und Schwestern-Versammlung der „Ochsenmarkt“.

Dem Aberglauben bot das Lotto das reichste Feld, besonders erhielten die Träume eine außerordentliche Wichtigkeit. Die alten Traumbücher, welche die Träume bildlich erklärten, indem z. B. von Dornen träumen soviel wie Hindernisse, von schmutzigem Wasser Schmerz und Kummer, von Schnee Krankheit, von hellem Feuer künftige Freude, von Todten Regenwetter etc. bedeuten sollte, wurden mit den neunzig Lottozahlen verbunden. In alphabetischer Ordnung füllten diese Traumangaben Hefte und Bücher und fehlten in keinem Hause. Die Traumauslegungen nahmen unzähligen Menschen den Geist die ganze Woche hindurch in Anspruch. Jetzt sind Traumbücher in Deutschland glücklicher Weise doch seltener geworden.

Unsere Illustration stellt unter der Weibergruppe vor der kaiserlich königlichen Lotto-Collectur uns eine solche Traumdeuterin in der Frau mit dem pfiffigen Gesicht dar, welche der dummen Alten an den Fingern her die Nutzanwendung ihres Traumes für die nächste Ziehung aus einander setzt. Diesem Schwindelgeschäft entgegenzuarbeiten und es mit der Zeit überall unmöglich zu machen, giebt es nur ein sicheres Mittel: wahre Volksbildung.

Die höchste Blüthe des Lotto besteht noch heute im Geburtslande desselben, in Italien. Wie vielfach und schamlos dort das Volk durch dieses heillose Institut ausgebeutet wird, haben wir unsern Lesern in einem besondern Artikel: „Die Schmarotzer des italienischen Lotto“, im Jahrgang 1879, S. 342 ausführlich geschildert.

Fr. Hfm.     




Die Braut in Trauer.

Erzählung von Ernst Wichert.
(Fortsetzung.)
11.

Es vergingen mehrere Tage.

Onkel Grün war still und viel bei der Arbeit. Manchmal sah er wie schwer bekümmert aus; wenn er sich aber beobachtet glaubte, hob er den Kopf und gab sich ein vergnügtes Ansehen.

Helene war viel für sich. Das war sie auch in dem Hause der Frau Consul gewesen, aber doch in ganz anderer Weise. Nichts von der Beunruhigung des Gemüths bei dem leisesten Geräusche draußen: wer wird kommen? was wird zu melden sein? Welche Verdrießlichkeit soll’s wieder geben? Sie wußte, daß Niemand sich darum kümmerte, was sie thue und unterlasse. Sie fand Bücher und las darin, größtentheils die alten aus der kleinen Bibliothek des Onkels, die sie vor Jahren schon einmal gelesen hatte, Walter Scott, Wilibald Alexis, Hoffmann, Chamisso. Wenn sie dann doch wieder eine Handarbeit vornahm, hatte sie gleich nachzusinnen, ließ bald die Hände in den Schooß sinken und blickte unverwandt zum Fenster hinaus, wo es doch – nach dem Hofe hin – weiter nichts zu sehen gab, als eine hohe weiße Wand.

Walter kam gar nicht.

Aber der Alte ging Abends spät ein Stündchen aus, wahrscheinlich ihn zu besuchen. Helene nahm dies als gewiß an, enthielt sich jedoch aller Fragen.

Von Aurelie langte in einem duftenden Couvert eine Visitenkarte mit Bleifederaufschrift an. In Folge einer unerwarteten Nachricht mußte sie schnell abreisen und deshalb sogar auf das Vergnügen verzichten, von ihr mündlich Abschied zu nehmen. Nicht einmal ein Ausrufungs- oder Fragezeichen. Helene lächelte,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 782. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_782.jpg&oldid=- (Version vom 21.1.2024)