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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

indem sie langsam das Kärtchen in’s Couvert zurückschob, aber die Brust war ihr dabei beklommen. Kein Zweifel: die vor Kurzem noch so glühende Freundschaft hatte eine starke Abkühlung erfahren. Was war der Grund? Einen Grund muß doch jede Veränderung haben.

Es war doch mindestens höchst auffallend, daß Herr von Brendeln gar nichts von sich hören ließ. Helene hatte seinen Besuch gleich am nächsten Tage erwartet. Ihren Brief konnte er gar nicht mißverstanden haben. Jetzt war sie frei, konnte über sich verfügen. Warum in aller Welt zögerte er?

Nicht als ob sie ihn mit Sehusucht erwartete! Sie fürchtete sich eher vor der Minute, die sie ihm gegenüberstellen würde, um diesen unsicheren Zustand für immer abzuschließen. Noch hatte sie sich nicht fest gebunden, noch konnte sie zurück, noch blieb die Möglichkeit, daß sich etwas ereignete, was ihrem Schicksal eine andere Wendung gab. Trat Brendeln ein, so ging er als ihr Verlobter fort. Und sie wußte im Voraus, daß sie sich dann sehr unglücklich fühlen würde, daß sie alle ihre Seelenstärke würde zusammenfassen müssen, sich in das Unvermeidliche zu finden. Ihn konnte aber doch kein Bedenken zurückhalten. Wenn er sie liebte … Nein! nicht einmal das: selbst wenn er sie nicht liebte, wenn er sich einen Irrthum des Herzens bekennen mußte, jetzt war dem Ehrenmanne der Weg vorgeschrieben. Es war beleidigend, daß er Tage darüber hingehen ließ, bis er that, was auf der Stelle gethan werden mußte.

Sie war mehrmals drauf und dran ihm zu schreiben, abweisend natürlich, das Verhältniß gänzlich abbrechend. Aber sie schämte sich – vor Walter. Er hätte den Spott billig gehabt. Wenn sie dann aber die Feder in der Hand hielt und das weiße Papier einladend vor ihr lag, bemächtigte sich ihrer eine solche Schreiblust, daß sie nicht widerstehen konnte. Sie schrieb an sich selbst. Erst nur einen knappen Bericht ihrer Erlebnisse, wie in einem flüchtig geführten Tagebuche; dann, da die Thatsachen rasch erschöpft waren und an sich auch wenig bedeuteten, eine ausführliche Darlegung ihrer wechselnden Seelenstimmungen. Da konnte es denn gar nicht ausbleiben, daß sie sich ernste Auskunft gab über das, was ihr Handeln bestimmt hatte, und daß nun die Gründe, selbst die geheimsten, die sich immer nur zögernd auf’s Papier wagten, gar nicht genügen wollten, sie sich selbst zu erklären. Die geheimsten waren es vielleicht doch noch nicht. Und auch sie mußten aus dem Versteck. Entschlossen tauchte sie die Feder ein – ein großer Tintenklecks gab davon bleibendes Zeugniß – und schrieb:

„Es muß doch gesagt sein: mein schwerstes Unglück ist, daß ich Walter liebe. Ja, ich liebe ihn, jetzt weiß ich’s; und jetzt weiß ich auch, daß ich ihn immer geliebt habe – damals schon, als ich meinte, Furcht vor ihm zu haben, und mich ärgerte, daß er mir nicht schmeichelte und immer auf seinem Willen bestand. Es gab aber auch Augenblicke, in denen ich verständiger urtheilte, und dann hatte ich – nachträglich wieder zu meinem Verdruß – von ihm eine ganz andere Meinung und freute mich seiner männlichen Entschiedenheit und Unnachgiebigkeit gegen die Schwächen des verwöhnten Kindes. Es war nur so schwer, sie abzuthun, und Anderen schien ich, wie ich war, so gut zu gefallen, daß die liebe Eitelkeit am Ende wohl Recht behalten mußte. Ich will mir aber gar nicht Unrecht thun: daß Walter für mich etwas wie Liebe empfinden könne, das ist mir dazumal nicht in den Sinn gekommen. Ich habe auch nicht seinetwegen eine Weile geschwankt, ob ich Robert’s Wunsch erfüllen solle. Ich muß mich aber wirklich ein wenig zu Robert zwingen und am Ende allerhand Gründe für ihn sprechen lassen, die mit der Neigung des Herzens nichts zu schaffen hatten. Leidenschaftlich habe ich mich überhaupt nicht zu ihm hingezogen gefühlt, obschon ich ihm recht gut wurde und gewiß ihn mit der Zeit noch immer lieber gewonnen hätte. Ich muß mir bekennen, daß ich während meines ganzen Brautstandes mich nicht ein einziges Mal zu überwinden vermochte, ihm zärtlich entgegenzukommen, sondern immer nur annahm, was er mir bot, und freundlich erwiderte. Ich habe nie das sehnliche Verlangen gehabt, mit ihm einmal ganz allein zu sein; ich habe nie gefürchtet, mich wohl auch vergessen zu können. Seit ich Walter wiedergesehen, quält mich mitunter der sündhafte Gedanke, ich hätte schlecht bestanden, wenn Robert noch lebte. Gott sei Lob und Dank! Davor bin ich behütet worden. Was mich jetzt so namenlos schmerzt, berührt in anderer Art mein Gewissen. Ich liebe und bin nicht mehr geliebt. Ich möchte mich Walter an die Brust werfen, ihm mein tiefstes Geheimniß beichten – ach, es wäre mein Tod! Er würde mich zurückstoßen, und das ertrüge ich nicht. Aber statt dessen – was thue ich? In welche heillose Verwirrung des Gefühls bin ich gerathen? Das Widerwärtigste muthe ich mir zu, nur um meine äußere Lage zu verändern, meinen Schmerz zu betäuben. Was ist mir der Mann, der mich zu seinem Weibe begehrt? Ihm angehören … Nein, nein und aber nein –“

Sie warf die Feder hin und sprang auf, gluthroth im Gesicht, die Augen flammend. „Nein, nein und aber nein!“ rief sie. „So darf ich nicht fallen. Ich will nicht frei geworden sein, um mir die traurigsten Fesseln anzulegen, die ein unglückliches Weib tragen kann. Sei stolz, mein Herz, sei stolz, vergieb dir nichts! Nie, nie diese unselige Verbindung. Jetzt hab’ ich mich wieder. Auf der Stelle soll Brendeln erfahren …“

Zu spät!

Onkel Benjamin brachte einen Brief, der soeben für sie abgegeben worden. Sie las ihn, wurde kreidebleich und sank ohnmächtig zusammen.

Herr von Brendeln schrieb ihr eine Absage.

Onkel Benjamin holte ein Glas Wasser herbei und netzte ihr die Schläfen. Sie brach, wieder zu sich gekommen, in ein krampfhaftes Weinen aus. „Da lies,“ schluchzte sie, lies! „O – es ist gemein. Aber mir geschieht Recht, ganz Recht; ich verdiene solche Zurückweisung. Wenn Walter erfährt … ich ertrag’ es nicht. Nein, nein, er soll’s erfahren, gerade er. Vor Keinem, als vor ihm, habe ich mich zu demüthigen.“

Grün las und wiegte den grauen Kopf und las wieder, vielleicht nur, um im Augenblick sich nicht äußern zu dürfen. Und dann ließ er, wie das so in bedenklichen Fällen seine Gewohnheit war, erst einige knurrende Laute vernehmen, die als allgemeine Zeichen der Unzufriedenheit verstanden sein wollten. Dabei streichelte er Helene das Haar und klopfte ihr ermunternd die Schulter. „Das ist gemein!“ wiederholte er endlich mit dem Ausdruck tiefster Entrüstung und zwang dazu sein gutmüthiges Gesicht recht wüthend auszusehen. „Ein solcher Mensch! Und das nennt sich von Adel – das! Walter hat ganz richtig gesagt: eine gefährliche Bestie!“

Das letzte war ihm so herausgekommen, er wußte selbst nicht wie. Helene merkte auf und sah ihn mit ihren verweinten Augen fragend an.

„Walter? Ja, ja! Der hat ihn recht erkannt. Und ich selbst … ach Gott! wenn ich’s einem Menschen anvertrauen dürfte!“ Sie wandte wieder das Gesicht ab und bedeckte es mit den Händen. „Ihr müßt mich verachten.“

Der alte Herr suchte sie zu beruhigen, aber es gelang schlecht genug. So Schweres habe sie sich am Ende doch nicht vorzuwerfen. Man könne sich wohl in einem Menschen täuschen, wenn er so geschickt falsches Spiel spiele. Und was könne sie denn dafür, daß sie ihm gut gewesen sei? Damit traf er’s nun ganz unglücklich.

„Onkel, kannst Du das wirklich glauben?“ rief sie, von Neuem in Thränen ausbrechend. „Ach, Du mußt ja wohl! Das ist ja das Traurigste, daß Du und Walter … Nein, er soll nicht …. Sag’ ihm … Ach, es ist nicht zu sagen.“

Er ging nun eine Weile schweigend im Zimmer hin und her. Allein wollte er sie nicht lassen und den richtigen Zuspruch konne er auch nicht finden. Endlich suchte er wieder seinen Arbeitstisch auf, ließ aber die Thüren offen stehen. Und dann, früher als sonst, schickte er sich zum Ausgehen an, kam jedoch noch zu fragen, ob er ihr irgendwie zu Dienst sein könne, und versicherte, daß er heute nicht lange ausbleiben werde. Helene hatte sich auf’s Sopha gelegt, wendete den Kopf nicht zurück, reichte ihm aber die kalte Hand zum Abschied hin. Sie sprach nicht dabei.

Wirklich blieb er nicht lange fort. Er sei bei seinem Sohn gewesen, erzählte er, um ihm von der „Schändlichkeit“ Mittheilung zu machen. Es sei doch nöthig gewesen, ihn von dem Geschehenen zu unterrichten. Sie wollte wissen, wie er sich darüber geäußert habe. „Knapp genug,“ sagte er. „Er hat so den Kopf zurückgeworfen und zwischen den Zähnen hindurch gezischt: ‚Wie konnte Helene auch so thöricht sein, auf eine reiche Erbschaft zu verzichten?‘“

„Ich segne meinen Entschluß,“ entgegnete Helene.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 783. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_783.jpg&oldid=- (Version vom 22.12.2023)