Seite:Die Gartenlaube (1883) 790.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

„Ich komme noch mit dem verscheinenden Tag in das Waldhaus Eurer Gießerei droben auf dem Steiger. Reicht es für die Holzhauer zu einem Unterschlupf bei Unwetter aus, so giebt es auch mir eine Nachtherberge. Und mit dem Morgengrauen kann ich meinen Stab weiter setzen. Mich verzehrt die Angst,“ schnitt er die Gegenrede des Vetters ab. Seine Geberden waren so verzweiflungsvoll, daß Eberhard, ohne ein Wort weiter zu verlieren, ihm nur lange und stark die Hand schüttelte. Dann ging Hermann eilig davon.

Die Meisterin trat in die Thür und sah ihm erstaunt nach, wie er die Schlösserstraße entlang eilte und um die Ecke des Angers bog. „Wohin geht der junge Gesell noch so spät?“ fragte sie ihren Obergesellen.

Die kam ihm gerade recht. Jetzt konnte er ihr manchen kleinen Verdruß heimzahlen, den er in dem letzten Mond eingesteckt hatte. Er sah sie grimmig an. „Nach Arnstadt, allwo die Pest würget.“

Sie erblich und schlug die runden Hände über dem Kopfe zusammen. „Aber warum thut er uns das an?“

„Weil er seinen Schatz dort hat,“ lachte Eberhard höhnisch und fuchtelte mit der ausgegangenen Pfeife unter ihrer Nase herum. „Versteht Ihr mich, Frau Meisterin? Und Euch läßt er durch mich Valet sagen.“

Und er ging in seine Stube. Drinnen aber nahm er seinen Hut ab, faltete die Hände und sprach ein warmes Gebet für den Vetter. Dann schlief er ruhig ein; er hatte für ihn gethan, was in seinen Kräften stand. Nun mochte Gott walten!




Derweilen eilte Hermann davon, an den frisch-grünen Brunnenkressenklingen vorüber, durch die Buffbohnenfelder und Waidpflanzungen hinüber nach dem Steiger. Aber so rasch er ausschritt, die Nacht nahte noch schneller. Es war Neulicht, und er vermochte endlich in dem dichten Walde nur noch tappend das Holzhaus der Gießhütte aufzufinden. Unzählige Male schaute er aus der Luke, ob das Morgengrauen noch nicht über den fernen Bergen auftauche. Und sobald das Auge die Löcher, Wurzeln und Steinblöcke unterscheiden konnte, aus welchen die Landstraßen in damaliger Zeit bestanden, verließ er seine Zufluchtsstätte. Vor ihm dehnten sich jetzt im Dämmerschein die Hügelketten, die endlich in die Flur von Arnstadt hinabsinken.

Von dem nahen Dorfe Waltersleben, das seine von den Kriegszeiten her noch schief hängenden Giebel und geschwärzten Mauern über einige verschont gebliebene Holzbirnbäume erhob, karrte ein Bäuerlein ein Fuder Wachholderbüsche des Weges.

„Ist itzo gesuchte Waare dort unten,“ rief er Hermann zu. „Das war für mich Hülfe in der Noth. Mein Aeckerlein in den schweren letzten Jahren überwachsen von dem stachlichten Zeug, kein Heller im Beutel, kein Stück Vieh im Stall, kein Korn Roggen in der Scheuer zu sehen, das Haus zerbrochen, daß alle vier Winde hindurch fuhren. Da kommt die schwere Noth in die reiche Stadt; sie brennen Tag und Nacht Wachholdern, so die giftigen Dünste verzehren, und ich ernte nun auch einmal, wo ich nicht gesäet habe.“ Er fuhr vergnügt weiter.

Auch Hermann schritt fürbaß. Schwerer blauer Dunst lagerte dort unten und hüllte die Stadt ein. Als das rosige Licht im Osten entglomm, beleuchtete es nur das Krönlein von Pappeln auf der Altenburg, das von den Arnstädtern zu ewigem Gedächtniß an die Stätte gepflanzt worden war, wo die Schweden eine Schanze aufgeworfen und mit ihren ledernen Kanonen bewehrt hatten. Aber ob Hermann auch vor dem Nebel die Zinnen und Thürmchen der Ringmauern noch nicht zu erspähen vermochte, so drang doch schon von weitem eine klagende Glockenstimme an sein Ohr: Hilf Gott! berath! hilf Gott!

„Sie läuten zu einer Betstunde“ flüsterte er mit versagendem Athem, indem er den Markstein der Arnstädter Flur überschritt. Hier und da arbeiteten Leute auf dem Felde; das tägliche Brod mußte beschafft werden, trotz des schwarzen Todes. Zu Boden gebeugt, mit verweinten Gesichtern schwangen sie Sense und Sichel. Jetzt schlug die große Glocke an. Da warfen Männer und Weiber das Werkzeug weg, stürzten auf die Kniee und sprachen mit aufgehobenen Händen die alte Anrufung: „Herr Gott, Vater im Himmel, erbarme Dich über uns!“

Da auf der Landstraße lag der Büttel im Staube und flehte, und dort an dem Weizenfelde, das seine schweren Aehren leise im Winde schwenkte, knieete der Rathsbrunnenmeister mit gefalteten Händen.

Hermann eilte zu ihm hinüber. „Ich bitt’ Euch, wie steht es in der Papiermühle?“ fragte er.

„Ich weiß es nicht,“ stöhnte der Rathsbrunnenmeister. „Sie ist geflohen; denn in ihr brach das Unglück aus. Zwei Mühlknappen starben zuerst an der Pest. Auch meinen Jüngsten hat die Seuche dahingerafft.“ Die Stimme brach ihm. „Doch Gott geleite Dich. Laß mich meiner Andacht obliegen. Der Herr Superintendent hat angeordnet, daß die ganze Gemeinde auf das Glockenzeichen ihr Gebet vereinige, damit es stark genug werde, um die Wolken zu durchdringen.“

Er begann wieder seine Anrufung, und Hermann wandte sich der Stadt zu, beschwertem Herzens denn zuvor. Dort an der Mauer des Gottesackers war das verrufene Pesthäuslein aufgethan. Er kannte die Wärterin, die gleichmüthig den Fensterladen aufstieß, es war die alte Leichfrau. Dem Brauch gemäß öffnete sie einer Seele, die eben ausgehaucht war, den Weg zum Himmel. In der Pestilenzecke des Begräbnißplatzes warfen die Todtengräber eine Grube zu und begannen ein neues weites Grab zu schaufeln.

Der Büttel, der nur unter der Dachtraufe der Papiermühle gehen sollte, schritt an Hermann vorüber. „Da hinein kommt Herr Henning. Es ist keine Zeit zu fürnehmen Begräbnissen,“ sprach er.

Hermann stockte der Athem. „Wer lebt noch in der Mühle?“

„Ich weiß es nicht,“ erwiderte der Büttel. „Der Alte und die Frau liegen auf den Tod. Lauft, da kommt der Karren mit den Pestleichen.“

Dumpf polterte das schwarze Gefährt über die Thorbrücke.

Hermann hielt den Todtengräber an. „Lebt noch Jemand in der Papiermühle?“

Der Todtengräber war betrunken und roch nach Wachholderschnaps. „Weiß nicht,“ lallte er. „Ist auch Alles eins. Einmal kommt doch Jeder unter meine Hacke und Haue.“ Die Schaufel auf der Schulter, schritt er dem Zuge nach.

Herber Duft von Wachholdern strömte Hermann aus der Stadt entgegen, auf allen Kreuzwegen knatterten Feuer und verzehrten den balsamischen Baum. Bis auf die Thürschwelle waren zerhackte Nadelzweige gestreut. Aus den Häusern schallte lautes Jammern. Hier und da sah er an den Fenstern Menschen mit gerungenen Händen stehen.

Aus einem Freihaus stapfte, auf seinen langen Rohrstock gestützt, der Medicus der Stadt in seinem mit silbernen Gallonen besetzten Wams herfür. Der zerknitterte Spitzenkragen und die gewichtig empor geschobene Unterlippe legten Zeugniß für die Schwierigkeit der Zeitläufte ab. Sein Apotheker folgte ihm mit einem umgehangenen Tabulet, auf welchem krystallne Phiolen und Büchsen standen und eine zierliche Goldwage lag.

„Wer lebt noch in der Papiermühle?“ rief ihn Hermann an.

„Weiß nicht; der Sterbslauf ist nicht aufzuhalten, wiewohl wir mit schier wunderbarlichen Arzneien dagegen zu Felde ziehen,“ antwortete der Apotheker. „Das alte Mittel: Pestilenzwurz in Wein destilliret, haben wir bei Seite gestellet, und mein gelahrter Herr hat ein köstlich Experiment aus dem Kräuterbuch des hochberühmten Italieners Mathiolus, weiland Leibarztes des in Gott ruhenden Kaisers Maximilian II, gegen die Pest erlesen, schwierig zu bereiten und schier unbegreiflich. Gewissenhaft haben wir die Vorschriften befolget und in verschlossenen Eierschalen den ganzen Safran gebraten, welcher mit Senfkörnern und Zitwer zu der Latwerge verarbeitet wird, und er wiegt davon ein Quentlein schwer jeglichem Kranken zur Heilung, jeglichem Gesunden zum Schutz ab. Dennoch lieget die halbe Stadt auf der Bahre.“ Er folgte eilig dem Medicus nach, der in ein stolzes Kaufhaus an der Erfurter Gasse hinein schritt.

Mit athemloser Brust eilte Hermann weiter. Aber die Muhme Schmidtin führte nicht umsonst im Schild ihres Hauses am Sperlingsberg den wachsamen Kranich. Urplötzlich schob sie das Fenster auf. Ihr Kopf mit dem Pfauenschweif fuhr heraus.

„Daß Gott erbarm! Wo kommst Du her? Ach das Unglück! Aber ich habe es gleich gesagt. An Zeichen und Wundern hat es nicht gefehlt. Der Nachtwächter hat eine Erscheinung gehabt: um Mitternacht ist ein Leichenzug von lauter Männern

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 790. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_790.jpg&oldid=- (Version vom 21.1.2024)