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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Reihe der Bierheischenden, an die Johanne antreten mußte, stand bis auf das Rieth heraus. Nur langsam ging es fürbaß, durch die rundbogige Pforte, über den weiten Hausflur. Die Kellerthür hatte zwei Flügel wie der Eingang zu einem Staatsgemach, die Treppe Stufen, so breit wie an einer Kirchentreppe, der Keller ein hochgeschwungenes Kreuzgewölbe. Eine kupferne Hängelampe schwebte von der Decke und erleuchtete die lange Reihe der mächtigen Biertonnen, bis ihr Schein in der Ferne verdämmerte. Der Duft des Bieres, welches so stark war, daß es gar manchmal die Fässer zersprengte und mit seinem Dampf die Bierschröter zu ersticken drohte, war an sich schon vermögend, ein Räuschlein zu erzeugen.

Vor dem angestochenen Faß saß die vereidigte Bierzapferin, eine dicke Frau mit einem großen Kropfe, welchen sie sich bei dem rühmlichen Streben, ihr wichtiges Amt würdig für Augen zu stellen, erworben hatte. Sie maß das Weizenbier zu, das, eingegossen, mit weißer Schaumkrone aufperlte, und von dem jeder Tropfen schwer wie Honig herabrann. Und die Wartenden entlang flogen die Klatschereien der Stadt; die Bierreihe vertrat die Stelle eines Wochenblättchens, dessen Arnstadt sich noch nicht erfreute.

„Seht, die junge Frau Fischerin!“ kicherten die Mädchen, als Barbara mit ihrer Bierkanne die Treppe nach dem Wohngelaß hinaufging. „Welch einen dickgeschwollenen Backen sie hat! Da ist auch der Küßmond schnell vorüber geschwunden. Ja, der Herr Fischer darf sich eines gar beweglichen Handgelenks rühmen. Hat auch gesagt, er könne sich auf den Doctor Luther berufen, welcher jeglichem Weibe, das dem Mann über den Mund fährt, ein Maulschellium zudictiret habe.“

Ein Geschrei schallte aus dem Bierkeller herauf. „Horcht!“ ging es durch die Reihe: „das ist die Schmidtin aus dem Kranich.“

„Ich habe es gesehen,“ zeterte drunten die Schmidtin. „Ihr habt das Maß schief gehalten. Denket an die spukhafte Bierzapferin, als welche im Hopfengrunde umgehen muß, dieweil sie Wasser unter die Stadtbiere gemischt und die Leute bezwackt hat ihr Lebtage.“

Die dicke Bierzapferin erhob sich, stemmte beide Hände in die Seiten und erwiderte: „Denket Ihr lieber an den Klapperstein und hütet Euch, daß Ihr nicht nach Eurem Hinscheiden mit selbigem umgehen müßt, der Euch von Rechtswegen schon hienieden gebührte, Ihr friedhässiges Weib, Ihr!“

Den Lästerstein vermochte die Schmidtin seit jener denkwürdigen Nacht nicht mehr zu bestehen; sie bekam einen Stickfluß und eilte in’s Freie. Triumphirend kehrte die Bierzapferin auf ihren Holzschemel zurück. Als sie Johannen ein Stübchen Bier in die ausgepichte Holzkanne gemessen hatte, hing sie noch das Bemerken an: „Ihr müßt Euch doch recht über das Glück freuen, das der Zimmermann macht.“

„Was für ein Glück?“ fragte Johanne mit weit geöffneten Augen.

„Herr Fischer brachte es mit von Erfurt,“ erzählte die Zapferin. „Er hat Weizenbier dahin geliefert in die fürnehmste Herberge, zur ,Hohen Lilie’ benamset. Ja, der Hermann Zimmermann freit um seine Meisterin, welche die Glockengießerei von ihrem Manne ererbt hat. Es gilt Niemand alldorten etwas als er. – Wollet dem nächsten Weibe Platz machen. Guten Abend, Jungfer Hanne.“

Johanne war herauf gestiegen, heimwärts gegangen, hatte den Begegnenden Guten Abend geboten, daheim die Bierkanne in die Küche gesetzt und war dann in ihr Giebelstüblein gekommen, ohne daß sie von alledem etwas wußte, außer, daß sie die Füße wunderbar schleppen mußte. Sie sank auf die Truhe, die, mit einem Polster belegt, ihre Bank bildete, und verlor die Besinnung.

Am andern Morgen ging durch die Stadt die Rede: „die schöne Hanne ist sterbenskrank.“ Die Einen sagten: „sie ist in dem kalten Bierkeller verschlagen;“ die Andern: „sie grämt sich, daß der Fischer sie nicht gefreit hat;“ die Dritten: „in die Papiermühle ist ein Grabstein vom Liebfrauenkirchhof eingemauert worden, das zieht den Tod hinein.“ Die ganze Stadt kam in Aufruhr, denn die schöne Hanne war noch niemals in ihrem Leben krank gewesen, nicht einmal die Pest hatte ihr etwas anhaben können.

Am verwirrtesten ging es in der Papiermühle zu. Niemand konnte ergründen, woher der Anfall kam. Johanne lag fieberglühend in ihrer Giebelstube; aber sie biß die Zähne zusammen, daß sie nicht zu sprechen vermochte. Selbst über die Phantasiebilder des Fiebers triumphirte ihr starker Wille. Die Muhme Schmidtin wurde zur Frau Henningin gerufen und um Rath angefleht.

„Laßt nur den Medicus nicht über die Schwelle,“ warnte sie. „Der ist mit seinem Rohrstock und hohem Störcherhut viel zu fürnehm für uns, und seine Experimente sind zu gelahrt für Bürgersleute: daran mögen die Potentaten sich erlaben. Da der Nachbar Schlotfeger im hochgräflichen Rauchfang sich verbrannte, sprach er: ,Das seind Höllenflammen,’ und schnitt ihm alle zehn Finger ab; und als der Stadtwachtmeister von einem schwedischen Reiterbuben gestochen worden war, hat er die Wunde mit einem Meißel aus Enzianwurzel erweitert, auf daß die Heilung sich nicht überstürzte – Wir wollen sie schon selber wieder auf die Beine bringen. Du, Christel, geh zum Spittelvater und bitte, daß er das Fieber versagt.“

Christel enteilte. Aber es war schwer zu dem wichtigen Manne zu gelangen. Er stand in der Küche, wo am gemeinsamen Feuer viele kleine Töpfchen brodelten. Die Spittelweiber umringten ihn; nur seine hohe weiße Zipfelmütze ragte über sie hinweg, und er schlichtete den alltäglichen Streit, indem er sprach:

„Frau Leineweberin, unterfanget Euch nicht wieder, heimlich in das Töpfchen der Frau Muldenhauerin zu gucken, um zu sehen, was sie koche, dieweil selbiger sonst ihre Klöße vergället werden; und Ihr, ehrbare Jungfern, schämet Euch, daß Ihr sogar gerochen habet, wie die Wildemannswirthin Erbsen mit Speck kochet. Wer sich noch einmal unterstehet, einen Topfdeckel zu lupfen, den werde ich öffentlich einen Topfgucker benamsen.“ – Dann wandte er sich Christeln zu. „Nun, mein Kind, was hast Du fürzubringen?“

„Die Hanne liegt im Fieber,“ klagte Christel, „und sieht glühroth aus.“

Da nickte er gewichtig und antwortete: „Das Fieber wollen wir schon bestehen.“ Er wehrte der Weiberschaar, ihm zu folgen, ging in den Hof zu dem alten Hollunderbaum, der bis an das Dach hinauf reichte, faßte einen Zweig und sprach:

„Holdersaft, ich heb’ dich auf,
Fieber, setz’ dich d’rauf.“

Hierauf winkte er Christeln zu: „Gehe getrost heim; es ist geholfen.“

Dem ganzen Spittel schauderte vor Ehrfurcht bei seinem Gebahren. Sie waren strenge Lutheraner, welche katholische Bräuche als Abgötterei verdammten, und übten doch sonder Scheu uralten Heidendienst. Sie wußten nicht, daß die geheimnißvollen Kräfte des Holderbaumes längst gestürzten Göttern entstammten; aber sie erwiesen ihnen Vertrauen wie ihre Vorfahren vor einem Jahrtausend. Die alten Götter sind freilich aus dem germanischen Volksgeiste herausgewachsen, und wurzelechte Rosen dauern länger aus als aufgepfropfte, und seien diese auch viel edler als jene.

Derweilen kochte die Muhme einen Sud aus Chamillenblumen, verstopfte die Fenster, packte Betten über Betten auf die Kranke und heizte ein. Aber da sie einmal nach einer eingenommenen Stärkung, welche die Frau Henningin auftragen ließ, an den Schauplatz ihrer Thätigkeit zurückkehrte, lag der Berg von Betten vor der Thür, stand der Chamillensud daneben, floß ein Wasserstrom zischend aus dem Ofen. Die Thür war verschlossen und that sich nicht wieder auf. Christel sah von unten, daß die Fenster weit aufgeschoben waren. Da ging endlich die ganze Sippe schlafen und baute auf den Spittelvater und seinen Holderbaum.

Derweilen warf Johanne sich unruhig auf ihrem Lager hin und her. War es nur möglich, daß Hermann sein Herz an eine Andere gehangen, sie vergessen hatte? Und sie war doch allezeit seiner eingedenk gewesen, hatte von keinem anderen Freier hören wollen und mit der Treue sich getröstet, da die Liebe ihnen nicht zugetheilet werden konnte. Auch dieser schwache Trost, diese wehmüthige Labung sollte ihr nun entzogen werden. Wie hätte sie noch an ihn gedenken mögen, da sie wußte, seine Gedanken begegneten den ihren nicht mehr auf selbem Wege – die weilten alle bei der reichen Wittib. Jetzo wußte sie, was Neid war. Mochte sie noch so fest im Katechismus sein, es half nichts.

Dazwischen sang der Nachtwächter die Stunden ab. Für

jedes Leid hatte er einen Trost: für Armuth, Krankheit, Tod;

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 824. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_824.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)