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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Nordenskjöld beobachtete an einem Julimittag dicht über dem Schnee eine Lufttemperatur von 25 bis 30° C. Es ist eine ähnliche, durch Reinheit und Trockenheit der Luft beförderte starke Besonnung, die auch in unseren Hochalpen jene der Polarflora so ähnliche und vielfach identische Pflanzenwelt im Verlauf weniger Monate zum Entfalten, Blühen und Fruchttragen befähigt.

Man muß nun aber nicht denken, daß die rothe Alge im reinen Schnee vegetire. Dies wäre schon nach den Ergebnissen der chemischen Analyse, die in ihrem Körper zahlreiche Mineralstoffe nachweist, unmöglich. Besonders scheint das äußere Häutchen, welches die Schleimkügelchen umhüllt, eine beträchtliche Menge Kieselsäure zu enthalten, aber auch Kalk, Eisen und sonstige dem Pflanzenkörper eigene Mineralstoffe fehlen in der Asche des rothen Schnees nicht. In der That zeigt sich die Oberfläche des Schnees und Eises, sobald sie eine längere Zeit gelegen hat, stets mit einer dünnen Schicht unorganischen Staubes bedeckt, welcher der Schnee-Alge ihren Bedarf an mineralischen Bestandtheilen zuführt. Ueber diesen Staub hat Nordenskjöld auf seinen früheren, wie besonders auf seiner letzten Expedition (Sommer 1883) eine Menge eingehender Untersuchungen angestellt, über die wir hier mit einigen Worten berichten müssen.

Man hatte früher wohl gedacht, daß es sich um Schlammmassen handle, die von den benachbarten, aus dem Schnee und Eis hervorragenden Bergen herabgeschwemmt und durch die Rinnsale an der Oberfläche des Schnees und Eises verbreitet sein könnten, allein Nordenskjöld fand diesen Staub in gleicher Menge auf dem grönländischen Binnenlandeise, wo meilenweit keine Berge in der Nähe sind, und auf Eisbuckeln, welche die umliegende Eisfläche und selbst die nächsten Berge überragten. Auf der letzten Expedition ersuchte er seine Begleiter, während ihrer langen Binneneiswanderungen sorgfältig auf kleine Steine zu achten, aber es wurden nicht einmal Stückchen von Stecknadelkopfgröße angetroffen, währen die Menge dieses im trockenen Zustande grauen, im feuchten Zustande schwärzlichen Staubes so groß war, daß sie manche Strecken millimeterdick bedeckte, und für den Quadratkilometer auf mehrere hundert Tonnen geschätzt werden mußte.

Es konnte demnach kein Zweifel sein, daß dieser Schlamm durchweg aus der Luft niedergeschlagen sein muß und sich auf dem Binnenlandeise dadurch in so beträchtlicher Masse ansammelt, daß durch das Abschmelzen des Winterschnees im Sommer das Material vieler solcher Staubfälle vereinigt wird. Nordenskjöld macht es indessen sehr wahrscheinlich, daß es sich hierbei nicht ausschließlich um einen von den Luftströmungen herbeigeführten irdischen Staub handeln kann, sondern daß dieser Staub eine beträchtliche Menge metallischer Bestandtheile enthält, die sich mit dem Magnet ausziehen lassen und wahrscheinlich, wie die metallischen Meteorsteine, vorwiegend aus Eisen, Nickel und Kobalt bestehen.

Wir haben von diesem im Weltraume verbreiteten metallischen Staub schon neulich in unserem Sonnenartikel (Jahrgang 1882, Seite 847) erzählt; natürlich läßt sich derselbe nirgends besser beobachten und sammeln, als auf weiten Schnee- und Eisfeldern. Da er somit etwas von unserem gewöhnlichen, erdreicheren Staube Verschiedenes darstellt, so hat ihn Nordenskjöld Kryokonit (das heißt Eisstaub) getauft. Dieser Staub giebt nun einer Anzahl von Schnee- und Eispflanzen die erforderliche mineralische Unterlage.

Früher hatte man die Alge des rothen Schnees für die einzige Bewohnerin der eiskalten Decke der Polarländer gehalten, aber bei der ersten Nordenskjöld’schen Expedition nach Grönland (1870) wurde von dem botanischen Begleiter Nordenskjöld’s, dem Dr. Berggren, eine zweite, in großen Mengen vorkommende Alge von braunrother Färbung entdeckt, die der Wissenschaft neu war und Nordenskjöld’s Krummfaden (Ancylonema Nordenskjöldii) getauft wurde. Es ist ein der Schneeblüthe nahe verwandtes Pflänzchen, welches aber die Eigenthümlichkeit zeigt, niemals auf Schnee vorzukommen, sondern im Gemisch mit dem eben beschriebenen Kryokonit weite Eisfelder zu bedecken und denselben eine purpurbraune Färbung zu ertheilen, die wesentlich zur Belebung der starren Landschaft beiträgt. Es ist dies unter der bisher bekannten Schnee- und Eisflora die einzige dem Eise ausschließlich angehörige Pflanze.

Außer an der Eisoberfläche fand sich die rothbraune Alge mit Kryokonit gemengt auch vielfach auf dem Boden senkrechter, ein bis zwei Fuß tiefer Löcher von drei bis vier Fuß Durchmesser, die an manchen Stellen in solcher Massenhaftigkeit und so dicht an einander grenzend vorkamen, daß zwischen ihnen kaum eine Stelle für ein Mittagsschläfchen zu finden war. Eine genauere Untersuchung ergab, daß die in so großen Massen vorkommende braunrothe Alge offenbar die Hauptursache dieser Löcherbildungen war, indem sie das Abschmelzen des Eises an den Stellen, wo sich ihre Colonien ausbreiteten, begünstigte.

Mit ihrem dunkelbraunen Körper verschluckt sie mehr Sonnenstrahlen, als der graugefärbte Staub oder gar das farblose Eis, deshalb sinken ihre Kolonien in immer tiefere Höhlungen ein, bis die Strahlen der niedrigstehenden Sonne sie nicht mehr erreichen können. Der erste Regen spült dann von allen Seiten auch den Oberflächenschlamm in diese Löcher hinein, deren Boden stets mit einer dicken Algen- und Schlammschicht bedeckt ist. So spielen diese mikrostopischen Algen auf den steinlosen Eisfeldern Grönlands eine ähnliche Rolle, wie kleine Steine auf unseren Gletschern. Durch die Löcher, die sie erzeugen, geben sie der wärmeren Sommerluft eine vermehrte Angriffsfläche auf die Eisdecke und beschleunigen so das Abschmelzen derselben beträchtlich. Vielleicht, meint Nordenskjöld, haben wir es zu einem guten Theile diesen mikroskopischen Wesen zu danken, daß die Eiswüsten, welche in einer früheren Epoche (der Eiszeit) Europa und Amerika auf weite Entfernungen vom Pole bedeckten, überhaupt wieder weggeschmolzen sind und jetzt schattigen Wäldern und wellenschlagenden Roggenfeldern Platz machen. Es ist dies ein bemerkenswerthes Beispiel von der Macht des Kleinen in der Natur, um so interessanter, als sich hier die Sonne in den kleinen dunkelgefärbten Organismen selbst das Werkzeug erzeugt, um das Eis anzubohren. Uebrigens bildeten diese tiefen und gedrängten Löcher für die Binneneis-Expedition, welche Nordenskjöld im letzten Sommer unternahm, ein ernsthaftes Hinderniß. Die mit Wasser gefüllten Löcher erhalten des Nachts eine dünne Eisdecke, welche sogleich durchbricht, wenn der Wanderer, der sie leicht übersieht, den Fuß darauf setzt. Wohl mehr als hundertmal brachen die Theilnehmer der achttägigen Expedition in solche Löcher ein, und es ist ein wahres Wunder, daß sich Keiner von ihnen dabei den Fuß gebrochen hat, was viele Meilen von der Küste ein verhängnißvolles Unglück gewesen wäre.

Die Zahl der bekannten Schnee- und Eispflanzen dürfte bei dieser Expedition, von welcher der botanische Begleiter Dr. Berlin zahlreiche Proben mitbrachte, noch beträchtlich vermehrt werden. Zum Schlusse müssen wir noch erwähnen, daß die mikroskopischen Pflanzen vielfach auch Thiere, denen sie zur Nahrung dienen, in diese unwirthlichen Regionen gelockt haben. Eine kleine schwarze Springschwanzart, der nach dem berühmten Gletscherforscher Eduard Desor Desoria glacialis getaufte Gletscherfloh, lebt hauptsächlich von dem rothen Schnee mit seinen Ueberresten, und ebenso finden sich in den arktischen Ländern mehrere Arten winziger Thiere, welche die rothen und grünen Algen verzehren, die den Polarschnee färben. Diese Thiere scheinen mit den Algen die Eigenthümlichkeit zu theilen, sich während des langen Winters einzukapseln und ebenso wie diese auch im getrockneten Zustande lange fortzuleben. Als Professor Wittrock im Winter 1880 auf 1881 die Sporen des rothen Schnees aus einem vor längerer Zeit gesammelten Materiale von Neuem zum Keimen brachte, lebten in dem Wasser auch eine Anzahl farbloser Würmchen auf, durch deren durchsichtige Körperbekleidung der rothe Mageninhalt hindurchschimmerte. So kann nicht einmal der starre Pol sich der Allverbreitung des Lebens erwehren, und wenn jene kosmologischen Propheten Recht haben, die da verkünden, daß die Oberfläche der gesammten Erde dereinst mit Schnee und Eis bedeckt sein werde, so dürften diese kleinen Thiere sich noch lange beim Schmause der rothen, grünen und braunen Schnee- und Eisalgen wohl sein lassen, um als letzte Ueberlebende der allgemeinen Erstarrung zu spotten, ja um vielleicht den Grundstock einer neuen Lebensentwickelung zu bilden, falls irgend welche kosmische Ursache eine Neuerwärmung herbeiführen sollte.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 847. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_847.jpg&oldid=- (Version vom 25.1.2024)