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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

„Schlimm genug, freilich! Wird sich aber wohl durchschlagen wie andere arme Mädchen auch, muß arbeiten lernen, hat zwei gesunde, liebe Händchen und zwei helle Augen. Wie soll’s denn heißen?“ vollendete sie ruhig. „Soll es den Namen der Mutter, Elisabeth –?“

Er nickte und wandte sich wieder zum Fenster.

„Adieu, Hegebach – wollen Sie das kleine Gör nicht wenigstens einmal ansehen?“

Er preßte die Stirn an die Scheiben und winkte hastig abwehrend mit der Hand.

„Nun, dann wünsche ich, daß dieses Kind noch einmal ein Gottessegen für Sie werde, Hegebach – daß Sie auf den Knieen für den Trost danken, den Ihnen der Herr in Ihren alten Tagen geschickt. Das möge Ihre Vergeltung sein!“

Sie ging, die Röthe der Erregung auf dem Antlitz, in das Zimmer der Verstorbenen.

„Nehmen Sie das Kind, Siethmannin, wir fahren jetzt!“

Und gefolgt von der Alten, die das sorglich in blaue Schleier gehüllte Wickelkindchen trug, stieg sie in den Wagen.

Sie hatte keinen weiten Weg zu machen; die Gasse hinunter, am alten Rathhause vorüber, welches an seinen Mauern noch die Spuren des dreißigjährigen Krieges trug in Gestalt eiserner Kanonenkugeln, durch ein paar winkelige Straßen und ein uraltes Thor, dann längs der Stadtmauer hin, über welche die Wipfel blühender Obstbäume hinweg ragten, eine prächtige Lindenallee entlang und schnurgerade auf ein gastlich geöffnetes Gitterthor zu, das die Front eines hohen massiven Gebäudes sichtbar werden ließ mit kolossalem spitzem Ziegeldach, bemoost und altersgrau. Und über dies mächtige Backsteinhaus, dessen ungefüge Mauern wie hineingebettet lagen in den Schooß knorriger Linden und Ellern, die sich auch jetzt wieder einen lichtgrünen Blätterschleier um die ehrwürdigen Häupter geworfen hatten, floß just in diesem Augenblick, als das Gefährt in den Hof rollte, ein goldiger Sonnenglanz, als wolle er das Wochenkindchen begrüßen beim Eintritt in das Haus, das ihm aus Barmherzigkeit und Mitleid eine Stätte der Kindheit werden sollte.

Mit einem Ruck hielt der Wagen vor der stattlichen Hausthür und ein junger, auffallend großer Mann, offenbar noch im Reiseanzuge, sprang die Stufen der Freitreppe hinunter, riß ungestüm den Wagenschlag auf und küßte beide Hände der Aussteigenden.

„Mutter, hätte ich das geahnt,“ sagte er, „aber in diesem Habit konnte ich doch unmöglich zum Begräbniß – Ah, Barmherziger! Was ist denn das?“ unterbrach er sich und deutete auf die Frau, die nun mit dem Kinde ausgestiegen war.

„Lisa ihr Kindchen, Moritz. – Um Gotteswillen, Du wirst es fallen lassen!“

Aber der junge Mann mit dem ehrlichen, hübschen Gesicht hatte schon das Bündelchen in den Arm genommen und trug es in das Haus, gefolgt von den beiden Frauen.

„O Gottchen, Gottchen!“ rief er drinnen im behaglichen Wohnzimmer, wie eine echte Ziehmutter, so zärtlich das winzige Gesichtchen betrachtend. „Wie das aussieht, Mutter, so klein und quappelig – meine arme, gute Lisa!“ Und er wandte sich rasch nach dem Fenster um, als wolle er nicht sehen lassen, daß die Augen ihm feucht geworden. „Da haben wir es nun, Mutter,“ fuhr er fort, „hättest Du doch der Lisa nicht zugeredet, als der griesgrämige Rittmeister um sie anhielt; sie lebte noch!“

„Moritz, Du bist ein Ungethüm!“ erwiderte Frau von Ratenow und nahm ihm das Kind aus den Armen. „Schäme Dich! Auf wen sollte das Mädchen warten? Thränen hat der große Junge in den Augen – ich kann’s nicht leiden, Moritz, wenn hinterher lamentirt wird mit Wenn und Aber. Lisa hat ihre Bestimmung als Weib erfüllt; laß sie ruhen.“

„Und die Kleine bleibt bei uns?“

„Freilich, Moritz,“ erwiderte die Mutter; „wo soll sie auch hin?“

„Das ist wieder so gut von Dir,“ sagte er und schlang seinen Arm um die stattliche Frau; „so gut, wie Du nur sein kannst!“

„Keinen Unsinn, Moritz; Du weißt, zu den Sentimentalen gehöre ich nicht,“ wehrte sie ruhig ab. „Dein Vater hatte Anlage dazu, und Du hast sie geerbt. Wie? – Du hast doch wieder einmal das theure Postgeld ausgegeben, um Deine Mutter und Deine Heimath zu begrüßen, Du kleiner Junge, Du?“

Sie gab sich Mühe, dabei geringschätzig auszusehen, aber es gelang ihr nicht; die Mutterliebe brach zu allgewaltig aus den Augen, mit denen sie den einzigen schmucken Jungen anschaute.

„Hast’s getroffen, Mutter, und Zeit hatte ich auch gerade, und daß Du nicht böse sein würdest, wußte ich ja.“

„Diese Zuversicht,“ sagte sie lächelnd; „wie gut Du mich kennst! Aber nun wollen wir die Kleine unterbringen. Was meinst Du, Moritz, ich beauftrage Tante Lott mit der Erziehung?“

„Was?“ rief er erstaunt und dennoch belustigt. „Da muß ich dabei sein! Gieb her das kleine Fräulein, ich trag’s hinauf – das muß ich sehen!“

Tante Lott war eine Pflegeschwester und Cousine der Frau von Ratenow und Stiftsdame zu Z., aber sie lebte, mit Ausnahme der vorschriftsmäßigen acht Wochen, die sie alljährlich zu Z. verbringen mußte, wollte sie ihrer Stelle nicht verlustig gehen, beständig auf der Burg. Sie war ein stilles, nicht allzu intelligentes Geschöpf, zart, blaß und ein wenig schöngeistig, und somit ganz das Gegentheil von Frau von Ratenow, obwohl die Beiden seit der zartesten Kindheit zusammen aufgewachsen waren. Tante Lott faßte alle Dinge unendlich schwärmerisch auf, sie lebte und webte in der Poesie, in höheren Sphären, „hoch über allem Erdenstaub“. Sie las Alles, was sie gerade in die Hände bekam, und je rührender und herzbrechender die Geschichte, desto schöner war sie. Sie konnte „Die bezauberte Rose“ auswendig, vom Anfang bis zum Ende, und wenn sie den letzten Vers anhub, war ihre Rührung auf das Höchste gestiegen:

„Und mir ist nichts aus jener Zeit geblieben,
Als nur dies Lied, mein Leiden und mein Lieben!“

Das war nur noch so geseufzt, nicht gesprochen.

Ja, das Schicksal hatte ihr auch einmal ein weißes Loos gezeigt, und sie zog ein schwarzes; sie hatte „ein Grab“ in ihrem Herzen, wie sie zu versichern pflegte.

Aber trotzdem, die Beiden waren immer gut mit einander ausgekommen. Als die praktische Cousine den Herrn von Ratenow freite, war Lott bei den vereinsamten Eltern geblieben, und nach deren Ableben fand sie auf der Burg ein paar freundliche Zimmer im oberen Stock des geräumigen Hauses, in denen es so altjüngferllch sauber war, daß man sich schier fürchtete, auf das glänzend gebohnte Parquet zu treten.

Eine schnurrende Mieze saß auf der Fensterbank hinter blüthenweißen Gardinen, am Kachelofen blitzten die Messingthüren wie eitel Gold, ein Spinnrädchen stand in der Sopha-Ecke mit prächtigen Schleifen verziert, und der Glasschrank war vollgestopft mit allerhand Nippes aus verflossener Zeit, das Hauptstück darin ein Chinese von Meißner Porcellan, der stundenlang mit dem Kopf wackeln konnte. Ungeheuer werthvoll sollte er sein, wie Tante Lott Jedem versicherte, der ihn bewunderte. Sie saß gerade am Fenster und las einen Psalm; sie trug ein schwarzes Kleid und ein ebensolches Taftschürzchen, denn sie hatte die so jung Verstorbene aufrichtig lieb gehabt. In eben diesem schmucken Zimmerchen war es ja gewesen, wo vor kaum einem Jahre das Mädchen weinend und verängstigt ihre Hand in die des ältlichen Bräutigams legte, den sie bei einem Besuche in der Burg, wie das große Rittergut der Ratenow’s hieß, kennen gelernt. Sie hatten Whist mit einander gespielt, und er war unartig geworden, als sie einen Fehler machte. Acht Tage darauf rasselte sein Schleppsäbel über die Treppe der Burg, er war „en grande tenue“ gekommen – um zu freien. Zwei Stunden hatte er unten im Staatszimmer gesessen in Hangen und Bangen, bis Frau von Ratenow gesagt: „Warten Sie, Hegebach, ich will dem kleinen Mädchen einmal den Kopf zurecht setzen.“ Und sie war hinaufgegangen in Tante Lott’s Stube, wo die Kleine verweint und zitternd auf der Estrade hockte und Tante Lott vergeblich mit kölnischem Wasser und Baldriantropfen gegen die aufgeregten Nerven der Begehrten zu Felde zog, welche die Werbung wie ein Blitz aus heiterm Himmel getroffen hatte.

Nach einer weiteren Stunde war sie verlobt; man hatte vorher die sonore Stimme der Hausfrau fast bis in das untere Gestock vernommen; wenigstens behauptete Moritz, der gerade zum Besuch anwesend, er habe deutlich Schlagworte wie: „anständige Partie“, – „Ansprüche“, – „worauf noch warten?“ – herausgehört. In das Stübchen nun, wo die Mutter gekämpft und gerungen, trug Moritz von Ratenow das Töchterlein und legte es ohne Weiteres in Tante Lott’s Schooß.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_003.jpg&oldid=- (Version vom 12.4.2019)