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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Familie mit einem Gaste, einem jungen Kaufmanne aus Bordeaux, länger als sonst zusammensitzt, hat sich Marc-Antoine heimlich vom Tische entfernt, und als der Fremde und ein Sohn Calas’ zur Nachtruhe gehen wollen, finden sie ihn in dem Thüreingange zum Waarenmagazin erhängt. Um sich und dem Unglücklichen das damals besonders entehrende Begräbniß und den schmachvollen Nachruf eines Selbsmörders zu ersparen, verheimlicht die Familie dem hinzugerufenen Chirurgen die Ursache des Todes. Der Chirurg aber findet die Strangulationsmarke am Halse des Todten und ruft mit lautem Schrei: „Der ist erdrosselt!“ Der Ruf wird auf der Straße vernommen und weiter verbreitet. Der Bürgermeister erscheint mit Mannschaft. Der fanatisirte Pöbel sammelt sich vor dem Hause. Marc-Antoine, der Sohn, so formt sich des Volkes Urtheil, sei vom Vater ermordet worden, weil er seinen Glauben habe abschwören wollen wie sein anderer Bruder.

Der Bürgermeister verhaftet den Vater Jean Calas und seine Familie mit dem fremden Gaste. Marc-Antoine, der Selbstmörder, wird mit allen Ehren begraben. Die weißen Brüder nehmen ihn als einen der Ihrigem in Beschlag und halten ihm ein feierliches Hochamt. Der peinliche Proceß beginnt. Dabei wird durch Zeugen unter Anderem festgestellt, daß Marc-Antoine an seinem Todestage einen nicht unbedeutenden Verlust im Spiele gehabt hatte. Aber die acht Richter des Consistoriums erklären bis auf einen Jean Calas für des Mordes schuldig und verurtheilen ihn zuerst zur Folter, dann zum Tode durch’s Rad. Man hofft, ihm durch die Folter ein Geständniß zu entlocken, das sollte denn auch die Schuld der anderen Gefangenen begründen helfen. Aber Jean Calas, ein vierundsechszigjähriger Greis, hält alle Marter der Folter aus, ohne seine Unschuld zu verleugnen.

Man schreitet nun zur Hinrichtung. Noch zwei Stunden lebt der zerschlagene Körper auf dem Rade, auf das man ihn flicht, ohne daß ein Fluch des Zornes oder der Rache wider seine Richter auf die Lippen des Sterbenden tritt: „Mein Gott,“ ruft er aus, „verzeih meinen Richtern, denn sie wurden durch falsche Zeugen zum Irrthum geführt!“

Dieser christliche, ergebungsvolle Tod bringt einen jähen Umschwung in die Meinung des Volkes. Die Richter haben jetzt nicht mehr den Muth, über die anderen Gefangenen das gleiche Schicksal zu verhängen. Sie sprechen die Wittwe Calas und Lavaisse, den fremden Gast, ganz frei und verhängen über die Anderen nur die Strafe lebenslänglicher Verbannung.. Aber die Familie Calas war moralisch, gesellschaftlich und finanziell vernichtet.

Da stand ihr ein Rächer auf in Voltaire. Kaum hatte er von dem entsetzlichen Processe gehört, als er auch mit dem starken Eifer und der fieberhaften Erregung, mit denen er für jede ihn begeisternde, der Humanität und Aufklärung dienende Sache eintrat, auf die Genugthuung der tief gekränkten Familie drängte. Er bot seinen ganzen Einfluß bei Vornehmen und Mächtigen auf, schrieb nach allen Richtungen hin zahllose Briefe zur Sammlung neuen Beweismaterials und veröffentlichte Denkschriften, welche den Fall mit der ihm eigenthümlichen Schärfe und vernichtendem Sarkasmus beleuchteten. Endlich nach drei Jahren rastlosen Ringens hatte er erreicht, daß der Urtheilsspruch der Richter von Toulouse durch das Obergericht für nichtig und der Hingerichtete sammt seiner Familie für unschuldig erklärt wurde.

Hier hatte die Folter ihre Wirkung versagt, aber sie war in einer anderen Weise zur Anwendung gekommen, als ein in dem Hirn des Untersuchungsrichters festsitzendes Vorurtheil, als eine vorgefaßte und dann mit zäher Consequenz festgehaltene Annahme der Schuld des Angeklagten. Und ebenso wie der Bürgermeister von Toulouse handelten unzählige andere Inquisitionsrichter, indem sie eifrig bemüht waren, nicht die Wahrheit, sondern die Schuld zu finden und den einmal verdächtig Gewordenen zu überführen.

Daß aber selbst die überführenden Aussagen unverdächtiger Zeugen nicht immer vor Begehung eines Justizmordes schützen, dafür liefert der Fall Lesurques ein erschütterndes Zeugniß. Lesurques, ein nach Paris gezogener Rentier, wurde von einer Anzahl Zeugen bestimmt als einer der Räuber erkannt, welche die von Paris nach Lyon gehende Courierpost Nachts geplündert und den Courier ermordet hatten. Zwar vermochte er durch Gegenzeugen sein Alibi nachzuweisen, namentlich bekundete einer seiner Landsleute, der Juwelier Legrand, daß der Angeklagte am frühen Morgen in seinem Geschäfte war und füglich nicht wohl an dem viele Meilen entfernten Schauplatze des Verbrechens gewesen sein konnte, aber der Zeuge hatte im falschen Eifer für die gute Sache das Datum eines Juwelenverkaufs in seinem Geschäftsbuche radirt, um sich auf dasselbe berufen zu können. Die Rasur wurde bemerkt, der ganze Entlastungsbeweis erschien in Folge dessen als abgekartet und wurde nur zu einem Moment verstärkter Belastung. Die nun erfolgende Verurtheilung erschien sonach durchaus gerechtfertigt. Da meldet sich ein junges Mädchen, um zu bezeugen, daß ihr entflohener Geliebter der Mörder sei, und ein verurtheilter Mitangeklagter Lesurques’ bekennt Angesichts des Todes, daß er schuldig, aber Lesurques unschuldig sei.

Nun geschah aber das Unglaubliche! Es gab damals keine Cassationsinstanz und nach Abschaffung des Königthums – der Proceß spielte im Jahre 1796 – nicht einmal das Recht der Begnadigung. Das Urtheil war gefällt und konnte, obwohl sein Unrecht klar zu Tage lag, nicht wieder beseitigt werden. Der „gesetzgebende Körper“ erklärte sich gesetzlich außer Stande, die Vollziehung des Urtheils zu hemmen. Lesurques wurde enthauptet und sein Vermögen eingezogen. So wurde der Mensch durch die Tyrannei seines eigenen Gesetzes zum Verbrecher! Den wahren Schuldigen fand man bald hierauf. Es war in der That der Geliebte jenes Mädchens, in deren Seele die Wahrheit den Sieg über die Liebe gewonnen hatte. Eine rothe Perrücke, die er bei dem Raube aufgesetzt, hatte seine Aehnlichkeit mit Lesurques herbeigeführt, und jetzt erkannten auch die Zeugen ihren Irrthum. Die Wittwe des unschuldig Gerichteten suchte nun um gerichtliche Herstellung seiner Unschuld nach. Sie hatte von ihrem Manne nichts geerbt als eine Locke seines Hauptes; sie will auch nichts wieder haben von dem alten Reichthume, nur die geraubte Ehre verlangt sie zurück. Auch dem steht das Recht entgegen. Sie wiederholt das Gesuch bei jeder neuen Regierung; Direktorium, Kaiserreich, Restauration, alle versagen es ihr. Sie stirbt, ohne das Ziel ihres Lebens erreicht zu haben, und hinterläßt es als teures Vermächtniß ihren Kindern. Vergebens! Weder Louis Philipp noch Napoleon III. vermögen dem Verlangen des natürlichen Rechts zu genügen. Nur das Vermögen erhalten die Nachkommen im Jahre 1859 zurück.

Daß aber auch selbst das freiwillige Geständniß eines Angeklagten nicht vor einem falschen Richterspruche schützt, das beweist mehr als ein Fall; bald drängt sich Jemand in die Schuld eines Anderen, um diesen zu retten, bald stehen hinter dem Geständnisse die Furcht oder andere zwingende Motive.

So lebt und herrscht der Irrthum nach allen Seiten und der richtende Mensch bleibt ihm unerbittlich verfallen, so lange er noch unter den Geboten dieser Erde steht. Keine Institution wird ihn jemals verbannen, nicht der Fortschritt des Wissens, nicht die Klärung des Denkens, noch die Verfeinerung des Gefühls. Denn zuletzt stehn alle wieder unter den irdischen Gesetzen. Diese an sich schon schwere Erkenntniß wird aber dadurch noch belastender, daß sie mit der weiteren verknüpft ist, daß das, was einmal auf Erden durch Menschenschuld geschehen ist, niemals durch Menschenmacht wieder ungeschehen gemacht werden kann. So bleibt nichts weiter als der Ausgleich der schädlichen Folgen menschlichen Irrens durch einen äußeren Ersatz.

Es ist nun eigenthümlich, wie der moderne Staat sich dieser ehrlichen Pflicht des Ausgleichs für die Nachtheile der verurteilten Unschuld beständig entzogen hat. Er fand in dem Bekenntnisse des Irrthums der in seinem Namen richtenden Organe eine Schädigung der eignen Autorität und meinte wohl, der Einzelne müsse diesem höhern Gesichtspunkte leidend sich unterordnen. Lange Zeit entzog sich der Staat der Verantwortung dadurch, daß er die Bestrafung des Verbrechers dem Verletzten und seinen Freunden überließ, und selbst nach der größern Erstarkung des Staatsgedankens blieb in Deutschland noch lange die Einleitung des Strafverfahrens von dem Auftreten eines Privatanklägers abhängig. Erst vom sechszehnten Jahrhundert an nahm der Staat die Verfolgung des Verbrechers in eigne Hände, aber ohne die Verantwortung des Anklägers mit zu übernehmen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_014.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)