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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)



„Papa, wie geht es Dir?“ forschte sie und schlang, das Körbchen rasch auf den Tisch setzend, beide Arme um seinen Hals.

„Frage doch nur gar nicht erst,“ war die verdrießliche Erwiderung.

Ueber des Kindes lächelnde Miene flog ein Schatten. „Papa, darf ich ein bischen bei Dir bleiben?“ bat sie schüchtern, „oder gehst Du in den Club?“

„Ich gehe in den Club, Du weißt es doch; aber die Siethmann ist nebenan.“

„Lieber Papa“ – der kleine rosige Mund zog sich abwärts, doch die Thränen wurden herzhaft verschluckt, „ich will ja gleich wieder gehen, aber Du weißt doch, ich muß Dir heute ‚Adieu!‘ sagen – morgen soll ich fort nach D.“

„Morgen schon?“ fragte er, von der Zeitung aufsehend.

„Wann fahrt Ihr denn?“

„Frau Cramm sagte, ich soll früh sieben Uhr bei ihr sein; Tante Ratenow hat nämlich Frau Cramm gebeten, mich mitzunehmen, Annie kommt doch auch nach D.; – und weil Moritz heute Hochzeit hat und sie Alle in Teesfelde sind und mich Niemand hinbringen kann, so –“

„Na ja,“ fiel er ungeduldig ein, „es ist ja ganz vernünftig so – der Cursus fängt wahrscheinlich übermorgen an?“

„Ja, Papa! Soll ich Dir ein bischen Zeitung vorlesen, Papa?“

„Ich danke! Also, da reise glücklich, Else, und sei fleißig!“ Er hielt ihr die Hand hin, und sah schon wieder in die Zeitung.

Das Kind stand völlig regungslos, seine erblaßten Lippen bewegten sich leise, aber es kam kein Wort darüber, nur in den Augen erstarrte das süße Feuer allmählich zu einem fast stieren Ausdrucke. Sie wandte sich dann um und ging aus dem Zimmer.

„Else!“ tönte es hinter ihr her; sie schrak zusammen. „Gieb das Zeug da der Siethmann, ich esse doch so etwas nicht.“ Und er deutete auf das zierliche Körbchen.

Sie lag plötzlich auf den Knieen vor ihm, dem grämlichen unfreundlichen Manne. „Papa! Papa!“ rief sie schneidend, „warum hast Du mich denn nicht ein einziges Mal lieb? Warum sprichst Du denn nicht einmal so freundlich mit mir, wie es Annie’s Vater mit ihr thut?“ – Der ganze kleine Körper bebte, sie schmiegte in leidenschaftlicher Aufregung den blonden Kopf an seine Kniee und brach in ein convulsivisches Schluchzen aus.

„Lieber Gott, Kind, so steh’ doch auf!“ rief die alte Siethmann, die bei dem Schrei des Mädchens hereingekommen war, und sie zog das halb widerstrebende Kind empor und in ihre Arme, dem Major einen strengen Blick zuwerfend. Er war aufgesprungen und ging nervös erregt im Zimmer hin und her.

„Wer hat Dir denn Etwas gethan?“ fragte er, halb besorgt, halb gereizt, „hast Du Schelte bekommen? Was fehlt Dir? Sag’ es doch! Wenn Du krank bist, soll die Siethmann mitgehen und Dich zu Bette bringen.“

„Ich bin nicht krank,“ klang es leise zurück. „Adieu, Papa!“ Und sich hastig die Augen wischend, ging sie aus dem Zimmer in jenes, das einst ihre Mutter bewohnte und in dem nun die Siethmann hauste, seit sie dem Major die Wirthschaft führte. Das Kind setzte sich still an’s Fenster und schaute in den verwilderten Garten hinaus; sie war auch gar zu traurig schon seit ein paar Wochen.

Da hatte Tante Ratenow sie eines Tages in ihr Zimmer kommen lassen und ihr gesagt – ja, wie war es doch?

„Else,“ hatte sie begonnen und dem Kinde über das weiche blonde Haar gestrichen, „Du bist nun schon zehn Jahre alt und ein vernünftiges Mädchen, da wird es Zeit, mit Dir über allerlei ernste Dinge zu sprechen. Sieh, jeder Mensch muß, soll er sich glücklich fühlen, im Leben zu etwas nütze sein, und das willst Du auch dereinst, nicht wahr? Manche Leute werden sozusagen mit einem silbernen Löffel im Munde geboren und brauchen sich ihr Lebtag keine Sorgen zu machen, nicht zu fragen: was werden wir essen, was werden wir trinken, womit werden wir uns kleiden? Andere haben während ihres ganzen Lebens weiter nichts zu thun, als diese Fragen an sich zu richten, und das Schlechteste ist es noch lange nicht, denn schon in der Bibel steht: ‚Und wenn das Leben köstlich gewesen, so ist es Müh’ und Arbeit gewesen.‘ – Dein Vater, Else, ist ein kranker, einsamer Mann, der viel Schicksal im Leben getragen, und er ist ein armer Mann – einen silbernen Löffel kann er Dir nicht mitgeben. Aber dafür gab Dir der liebe Gott einen hellen Verstand und einen frischen, gesunden Körper; und die Fragen zu beantworten, von denen ich Dir eben sprach, wird Dir leicht werden, wenn Du den redlichen Willen hast. Ich möchte Dir an’s Herz legen, Else, recht ehrlich zu wollen und recht fleißig zu sein, damit Du Dein Gouvernantenexamen brav bestehst; es ist so ziemlich der einzige Weg, den eine junge Dame von Stande vor sich hat, soll sie sich auf eigenen Füßen durch die Welt bringen.“

Es war dem Kinde gewesen, als sei plötzlich ein dunkler Flor über all die bescheidene Herrlichkeit seines ganzen Lebens geworfen. Die graue Schulstube erschien vor seinen Augen mit der stickigen Luft, mit den Wänden, die es erdrücken wollten, den Fenstern, die so selten ein Sonnenstrahl traf. Und darinnen sollte sie festgeschmiedet sein, sie, die Blumen, Luft und Sonnenschein so gern hatte; festgeschmiedet, nicht bis sie erwachsen, nein, für immer, immer! Das war ja unmöglich!

„Nun, Else, hast Du keine Lust dazu?“

Sie hatte nicht nur den Kopf geschüttelt, der ganze zarte Körper hatte gebebt vor Entsetzen.

„Dann bleibe Du ein kleiner Dummpatz, dann wirst Du einmal so Etwas wie die Siethmann; und Eine, die nichts gelernt hat, wird auch darnach behandelt.“

„Aber warum ich?“ hatte sie ausgerufen. „Die anderen Mädchen alle, die brauchen es doch auch nicht!“ Und die großen rehbraunen Augen sahen, wie um Lösung eines unfaßbaren Räthsels bittend, in das ernste Gesicht der stattlichen Frau.

„O, viele müssen das, Else, und Du auch. Es ist meine Pflicht, Dich so auszubilden, daß Du dereinst selbständig wirst. Nun geh; Du weißt, gehorsam sein mußt Du, Else, wenn Du auch jetzt noch nicht einsiehst, warum.“

Sie war dann zu Tante Lott gekommen, blaß, mit fliegendem Athem. „Ich soll fort, Tante!“ Weiter hatte sie nichts sagen können damals, und ihre Blicke waren durch das trauliche Zimmer geirrt und an dem guten alten Gesicht hängen geblieben; da hatte sie gesehen, wie zwei Thränen über alle die feinen Runzeln und Fältchen auf die Haubenbänder tropften. Und ihr war so bange geworden, daß sie nicht weinen konnte.

Fort sollte sie auf so unendlich lange, fort von der Stätte ihrer Kindheit, von dem schattigen Garten, von Moritz, von Allen fort! Und gestern hatte Tante Lott weinend den Koffer gepackt für sie, und sie hatte Abschied genommen von ihr, von Tante Ratenow und von dem lieben, lieben Moritz, denn schon gestern waren sie Alle nach Teesfelde zum Polterabend gereist. Selbst Tante Lott hatte ihr Grauseidenes aus dem Schranke geholt und sogar den Pegasus bestiegen zu dieser feierlichen Gelegenheit. Else konnte das Gedicht auswendig; es hatte entschieden Anklänge an die bezauberte Rose, und es war viel von Amor, Rosenketten und Liebeszauber darin die Rede. O, eine Hochzeit mitzumachen, es mußte ja herrlich sein – sie wäre so gern mit dabei gewesen, aber Tante Ratenow hatte es der Reisegelegenheit wegen nicht erlaubt. „Was willst Du auch dort, Else?“ hatte sie gesagt, „Kinder sind da nur im Wege.“

Nun war sie allein gewesen, den ganzen Tag schon, selbst die Mieze war über die Dächer spazieren gegangen. Was half es, daß die Mamsell ihr Mittags ein Glas Wein und ein Stück Kuchen als Dessert servirte? „Vom gnädigen Herrn, Else, er hat es mir auf die Seele gebunden,“ hatte sie dabei gesagt. Sie fühlte doch zum ersten Male die Qualen der Einsamkeit, die heiße, tiefe Sehnsucht nach einem Herzen, das voll und ganz ihr zu eigen gehörte, auf das sie ein heiliges Anrecht habe. Und da war sie zum Papa gelaufen.

Jetzt sprang sie plötzlich auf; sie konnte nicht länger in dem engen, so unwohnlichen, so entsetzlich herabgekommenen Raume aushalten. Es roch nach schlechtem Kaffee, es waren Oelflecke auf der Diele, und an der Wand hing die Garderobe der alten Frau; die einfachen Mahagonimöbel waren erblindet und der Sophabezug defect von Motten und schlechter Behandlung. Sie lief wie gejagt die Treppe hinunter, durcheilte ein paar Straßen und stand dann hochathmend auf dem Kirchhofe vor dem epheubewachsenen Hügel der nie gekannten Mutter.

Der Septembertag neigte sich seinem Ende zu, im Westen

hatte sich dunkles Gewölk gelagert und der Abendwind kühlte das

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_023.jpg&oldid=- (Version vom 9.7.2020)