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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

nicht gebrauchen könne. Er habe selbst kaum das Nöthige, er habe jeden Monat abzuzahlen an alten Lieutenantsschulden – wer das übernehmen wolle nach seinem Tode? Er könne nicht mehr thun, als daß er zu ihrer Erziehung die dreihundert Thaler gegeben, die ihm Lisa zugebracht; Else möge doch nun das verwerthen, was sie gelernt. Wie Viele müßten das – und so weiter.“

„Das arme Mädchen! Das arme Mädchen!“ jammerte Tante Lott und wischte sich mit dem Taschentuch über die Augen.

„Ich habe es ihm aber gesagt, Lott,“ fuhr die erregte alte Dame fort, „und Du weißt, in Honig sind meine Worte nicht immer gebacken.“

Tante Lott blieb stumm; sie wußte das nur allzu gut.

„Still ist er geworden und blaß zu guter letzt, aber was hilft’s! Ich hatte es gut mit ihnen vor – man kann keinen zwingen, glücklich zu sein –“

„Und nun, Ratenowchen?“

„Na, nun hat Moritz seinen Willen,“ klang es grollend.

„Ach, laß doch, Cousine,“ begütigte Tante Lott, der das Herz innerlich vor Freude jauchzte, daß der Liebling wiederkehre; „laß doch sein - wer weiß, wie noch Alles kommt, sieh -“

„Ich weiß es ganz genau, Lott,“ fiel Frau von Ratenow der Andern in’s Wort; „so wird’s: ein Leben im hellen Trara, ein Entwöhnen von allem Ernsten, wie es ja leider jetzt Mode geworden ist bei uns; und eines Tages wird sie arbeiten sollen, denn das ‚Muß‘ kommt, verlaß Dich darauf, in vielleicht gar nicht langer Zeit. Aber dann wird sie verlernt haben, sich zu schicken und zu fügen.“

„Ei, das steht in Gottes Hand, Ratenowchen. Sie kann sich ja verheirathen.“

„Willst Du ihr eine Mitgift zusichern, Charlotte?“ fragte sie spöttisch zurück; „dann bemiß sie nur nicht zu knapp.“

„O, diese Prosa!“ stöhnte Tante Lott beleidigt.

„Mit Deiner Poesie bäckst Du keine einzige Semmel und deckst Du kein einziges Mal den Tisch. Der Magen ist einmal da, gutes Kind, und selbst in der zärtlichsten Liebeszeit bekommt man Hunger - das wissen unsere jungen Herren von heutzutage sehr wohl, und das wissen sie auch noch zum Ueberfluß, daß Caviar besser schmeckt wie Reisbrei.“

Tante Lott erwiderte keine Silbe auf diese bittere realistische Auseinandersetzung. Nach einer Weile tiefsten Schweigens fing sie noch einmal schüchtern an:

„Ratenowchen, ich habe eine Idee. – Wenn Du – nein, wenn Moritz –; Frieda sagte neulich, sie müsse bald eine Erzieherin haben - wenn nun Else es einmal versuchte mit den Kindern, sie hat doch dann eine ernste Thätigkeit, und –“

Sie hielt ängstlich inne und versnchte, durch die tiefe Dämmerung die Züge der Gegenübersitzenden zu erkennen.

„Das ist – das ginge vielleicht, Lott,“ sagte rühig Frau von Ratenow und erhob sich. „Das ist wirklich einmal gar keine dumme Idee, Lott; - wahrhaftig, ich will doch gleich mit Moritz –“

Sie raffte ihren Mantel zusammen und nahm ihn über den Arm.

„Ich will Dir sagen, Lottchen,“ wandte sie sich an der Thür noch einmal um, „es liegt mir viel daran, daß die Krabbe in der Nähe bleibt und daß sie auch nicht gerad’ als Gouvernante - Aber, laß Dir nichts merken! Guten Abend, Lott!“

Und dann war die Thür zugefallen und die festen Tritte schallten verhallend vom Corridor in das stille Zimmerchen; und Tante Lott stand kopfschüttelnd mitten darin. O, diese Welt wurde immer prosaischer!




Ein trüber, unfreundlicher Octobertag neigte sich seinem Ende zu; mit rothglühenden Augen sauste die Locomotive, eine lange Wagenreihe hinter sich, durch den schweren, grauen Nebel und blies mächtige Dampfwolken in das weiße Dunstmeer, und Nebel und Dampf wogten nun spielend und quirlend durch einander in phantastischen, wilden Gestalten, sie schwebten und wogten und zerflatterten und blieben hängen in dem Gezweig der Fichten, immer neuen Platz machend, unaufhaltsam im schwindelnden Vorwärtssausen.

Am Fenster des Frauencoupés stand ein junges Mädchen, so hoch und schlank gewachsen, daß die Bandrosette des runden Strohhütchens beinahe in gleicher Höhe war mit dem oberen Abschnitte des Fensters. Sie war die einzige Insassin des Coupés an diesem naßkalten Herbstabend, aber auf ihrem jungen Gesichte stand nichts geschrieben von Frost und Einsamkeit, die Wangen glühten in freudiger Erregung, die rehbraunen Augen leuchteten, um den kleinen vollen Mund zuckte es bald wie ein Lächeln, bald blieb er einen Augenblick offen stehen, gleichsam in Erwartung von etwas Wundervollem, was dem Gesicht einen süßen, kinderhaften Ausdruck verlieh. Sie ging von einem Fenster zum andern, aber es war noch immer nichts zu sehen als Dampf; der Zug fuhr auch unerträglich langsam, meinte sie. Wohl zum zwölften Male nahm sie das Ledertäschchen in die Hand und legte es wieder hin. - Wie sie sich Alle wundern würden! Moritz wollte sie um zehn Uhr erwarten, nun war es erst sieben Uhr.

Das Herz klopfte ihr zum Zerspringen, als ein lang anhaltendes Pfeifen der Locomotive ertönte und nun einzelne Lichter an den Fenstern vorbeihuschten. Wie lange war sie nicht hier gewesen! Seit den letzten dritthalb Jahren hatte es auf der Burg während der Ferien ja nie recht passen wollen; einmal waren sie Alle im Bade, dann hatten die Kinder die Masern und –

Ach – und dort lag der Bahnhof! Else ließ das Fenster herunter und bog sich weit hinaus in die kalte nasse Herbstluft; da war der Brunnen, dort stand der alte einäugige Packträger, und hier unten, über die Gärten hinweg, schimmerten die Lichter des Städtchens rothgelb durch den Dunst und Nebel. Ach, es ist doch eine Lust, heim zu kommen, aus der Fremde heim zu kommen!

„Wohin, Fräulein?“ fragte der Packträger.

„O, es bleibt stehen, es wird morgen von der Burg abgeholt,“ sagte sie hastig; „ich bin früher gekommen –“

„Wollen Sie denn allein gehen?“ Dem Manne war es fatal, gar nichts zu verdienen.

Else dachte daran, daß Tante Ratenow es immer für unpassend gefunden, wenn Damen allein - „Sie können mir das Täschchen tragen, aber rasch, bitte,“ Und schon war sie vorangeeilt, die wohlbekannte, spärlich bebaute Chaussee entlang bis zum Stadtthor, und erst in der Thorstraße holte sie ihr keuchender Begleiter ein. Und da stand er noch, der alte Rathhausthurm, da waren sie noch, die schiefen und krummen Häuser, und noch ebenso schwankten die Laternen an den Ketten inmitten der Straße; noch ebenso klingelten die Hausschellen, und der Laden, wo Moritz ihr zuweilen Bonbons gekauft, hatte noch genau denselben Mohrenknaben hinter seinen Glasscheiben, zum Zeichen, daß echter Tabak hier zu bekommen sei.

Sie stand endlich still und sah zu einem Paar matt erleuchteter Fenster empor; unwillkürlich regten sich ihre Füße, hinaufzueilen - zum Papa. Aber Moritz hatte ausdrücklich geschrieben, er und Tante Ratenow wollten sie erst sprechen - nein, sie mußte gehorsam sein, und langsam wandte sie sich um.

„Schöner Umweg, Fräulein,“ brummte ihr Begleiter; „Sie wissen hier doch wohl nicht Bescheid.“

Sie nickte nur lächelnd, und wieder ging es weiter mit beflügeltem Schritt, zum Steinthor hinaus in die Lindenallee; sie kannte noch jeden der knorrigen Stämme, die sich schwarz aus der Finsterniß hoben; sie kannte den Laternenschimmer dort unten und das Bellen des Hofhundes, das an ihr Ohr scholl. Nun lehnte sie herzpochend an dem Bogen des Thorweges - da lag es vor ihr, das liebe alte Haus; dort oben Tante Lott’s Fenster, sie waren hell, und darunter die von Tante Ratenow’s Zimmer; über der Hausthür flammte die Leuchte und hinter den Küchenfenstern bewegten sich Gestalten, und dort wurde eben der große Wagen aus der Remise gezogen.

„Sie können gehen,“ flüsterte sie dem Manne zu, das Täschchen hinnehmend und ihm ein Geldstück in die Hand drückend; und mit immer schnelleren Schritten flog sie über den Hof, die Stufen der Freitreppe empor und stand nun in dem gewölbten Flur.

Wohin zuerst? Aber nur einen Augenblick schwankte sie, dann hatte sie sich der Treppe zugewandt; dort oben das kleine blinkende Zimmer, es war doch ihr eigenstes, ihr trautestes Daheim. „Tante Lott!“ rief sie auf der Schwelle; wie Lerchenklang flog es durch das stille Gemach der alten wunderlichen Jungfer.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 39. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_039.jpg&oldid=- (Version vom 25.5.2020)