Seite:Die Gartenlaube (1884) 042.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

nach dem Kopfe richtet. Weit mehr locken ihn junge Kleinvögel an, die er aus den Nestern reißt oder deren Sitz er, wenn sie ausgeflogen sind, auskundschaftet. Geleitet von Gehör und Gesicht, entdeckt er die nach Futter schreienden Kleinen und läßt sich nicht so leicht von den erbitterten Eltern derselben in die Flucht schlagen. Unser Bild stellt seinen Raub an einer jungen schwarzköpfigen Grasmücke dar, wie wir ihn in dem Park unserer früheren Heimath Staden in der Wetterau beobachtet haben. Trotz solcher da und dort vorkommenden Eingriffe des Dorndrehers in das Familienleben der Singvögel können wir kein so hartes Urtheil über ihn als Vogelräuber fällen, wie es Andere gethan haben.

Die Nachstellungen nach dieser Richtung hin sind vielfach abhängig von individueller Neigung, welche hauptsächlich durch zufällige Entdeckungen und dargebotene günstige Gelegenheiten zur Ausprägung gelangt. In den meisten Fällen nisten die Singvögel in der Umgebung des Dorndreherpaares ohne besondere Behelligung. Wohl finden Streitigkeiten zur Zeit des Nistens statt, aber die Unduldsamkeit zeigt sich wenigstens zum Theil auch bei den anderen Vogelarten. Die Goldammern verhalten sich gegen die Neuntödter so feindselig und zänkisch, daß letztere förmlich in die Flucht geschlagen werden. Schließlich wird doch Friede oder wenigstens Waffenstillstand geschlossen, den die Sorgen um den eigenen Haushalt jederseits erfordern. Am häufigsten sind die Dorngrasmücken in Hecken und Remisen von dem Neuntödter gefährdet, weil ihre Brut sich vielfach in seiner unmittelbaren Nähe befindet. Aber die Thierchen nisten fast immer in der Tiefe des Dorngestrüpps gut verborgen und halten sich mit ihren Jungen gar heimlich und stille.

Sogleich nach der Ankunft in der Heimath beginnt unter günstigen Witterungsverhältnissen das Minneleben des Dorndreherpaares. Da wechselt das Werben des Männchens um die Gunst des Weibchens in langem Hin- und Herjagen ab mit zeitweisem Ausruhen der erschöpften Vögel, daß sogar der sonst so starke Ernährungstrieb merklich zurücktritt. Da hat auch das Männchen keine Zeit zum Gesang, nur sein Gätzen vernimmt man in gewissen Werbungssituationen, ähnlich wie bei der Entdeckung es befremdender Erscheinungen, wenn diese nicht allzu schreckhaft auf das Gemüth wirken, sondern mehr die Neugierde, gepaart mit Mißtrauen, erregen. Aber wenn das Weibchen auf den Eiern sitzt, dann hört man an schönen Tagen in der Frühe das Männchen singen. Wie in philosophischen Betrachtungen versunken sitzt der Dorndreher mit dem bedeutenden Kopfe und dem intelligenten Auge auf einem Lieblingszweige und reproducirt die mannigfaltigen Weisen der von ihm belauschten Vögel. Doch versteht man ihn nur in der Nähe ganz, weil sein Stimmwerkzeng zur Hervorbringung weittragender Töne nicht ausreicht.

In etwas weiterer Entfernung sind nur einzelne ausgezeichnete Individuen zu belauschen. Im Zimmer aber kommt der höchst interessante Vortrag erst wahrhaft zur Geltung. Wir können die Begabung dieses Generalspötters unter den Vögeln nicht ausdrücklich genug rühmen. Seine ausgezeichnetsten Repräsentanten sind unvergleichliche Künstler in der Wiedergabe ganzer Lieder, einzelner Strophen und kennzeichnender Rufe anderer Vögel. Originell ist eigentlich nichts von allem, was der Dorndreher vorträgt, als sein Gätzen und der laute, bekannte Würgerschrei. Aber dennoch wird man nicht müde, ihm zu lauschen. Denn die Detailausführungen sind die naturwahrsten Copien, welche man hören kann. Das gilt in erster Linie und in vollem Sinne von den Gesängen der samenfressenden Singvögel und unter den Insectenfressern von den Grasmückenarten. Den Schlag der Nachtigall, das laute Flötenlied der Amsel kann er trotz aller Mühe nicht zu der Originalform gestalten, weil seine Stimme zu schwach ist. Doch reden wir in Beispielen nach unseren eigenen Erfahrungen, und die Meisterschaft dieses Obersten der Spötter wird in klarem Bilde vor des Lesers Geist treten.

Wir besaßen im Jahre 1879 zwei im Mai eingefangene Dorndreher. Der jüngere hatte einen Doppelschläger unter den Edelfinken gehört und trug diesen Doppelschlag entzückend schön vor; der ältere führte den einfachen Finkenschlag aus, aber viermal hinter einander; er sang das Lied der Feldlerche lange unaufhörlich. Das Lied des Bluthänflings sammt den Locktönen und den Rufen, die zum Aufbruch mahnen, den Gesang und die Locktöne des Stieglitzes, das Lied und die Zankstrophe der Amsel, fünf markige Singdrosselrufe, das dreimal wiederholte Rauchschwalbenlied, das Balzen und Knappen des Staars, das Geschrei der ausgeflogenen jungen Staare, den Pirolruf, die Gesänge der Dorn- und Klappergrasmücke, des Baumrothschwänzchens und Trauerfliegenfängers, des kleinen Weidenlaubvogels, das Wettern der Kohl-, Blau- und Sumpfmeise nebst den Locktönen, das bei der Jungenpflege häufig wiederholte Locken des Baum- und Hausrothschwänzchens, drei Nachtigallenstrophen, die drastisch wirkende Darstellung des in Zorn gerathenden zankenden Haussperlingmännchens, die Locktöne des Feldsperlings, tiefe Rabentöne, das in mehrfacher Wiederholung sehr schön ausgeführte Lied des aufsteigenden und niederschwebenden Baumpiepers und das Gewulle junger Gänse, in welches sich höchst komisch der Ton der alten Muttergans mischte – alle diese Tonstücke führte der fleißige Sänger vor das Ohr der Zuhörer. Der jüngere Vogel schilderte eine ganze Heerde Gänse, die dem Dorfe zueilt, und einzelne Töne gaben zu erkennen, daß der Hund oder der Hirte mit der Peitsche hinter ihnen her ist.

Im Jahre 1881 sollten wir glücklicher Weise in den Besitz des unvergleichlichsten Exemplares gelangen. Welch ein Fülle herrlicher Gesänge sprudelt wahrhaft aus seiner Kehle! Laut wie bei keinem seiner Brüder und raumbeherrschend quellen die Töne hervor, und malen nicht blos die feinsten Nüancirungen und Charakterausprägungen, sondern zaubern auch die verschiedenartigsten Situationen der nachgeahmten Vögel vor die Seele des Zuhörers. Er vergegenwärtigt uns nicht blos den einzelnen Vogel, sondern auch mitunter ganze Gesellschaften gleichartiger Vögel, Staarenfamilien, Bachstelzen, die in nebenbuhlerischer Stellung oder im Verfolgen und Ausschelten des Raubvogels ihr erregtes Zwitschern und ihre Lärmtöne hören lassen. Den Edelfinken hat er den schmetternden Frühlingsschlag in drei verschiedenen Formen abgelauscht, darunter paradirt der brillante Doppelschlag eines Originals, das ehedem in Thüringen den Werth einer Kuh herausgefordert hätte. Ebenso trägt er drei von einander abweichende Bluthänflingsgesänge vor mit entzückend feiner Schattirung, den Feldlerchengesang in modulirter Form, auch verschiedene Variationen des Dorngrasmückenliedes. Von Singdrosseln muß er viele Vorbilder gehört haben, denen er mehr als ein Dutzend herrlicher, metallisch klingender Strophen und das zusammenhängende Balzgezwitscher des Abendvortrags verdankt. Der Baumpieper ist in zwei Variationen des auf’s Feinste ausgeführten Liedes vertreten. Das Wettern der Amsel, das Angstgeschrei der Singdrossel, das Lied der Sperbergrasmücke, das Hammerschlagliedchen des kleinen Weidenlaubvogels, das Lied des Goldammers, seine Locktöne, welche die Gefährten zum Aufbruch mahnen, der vollständige Gesang des Rothschwanzes, der Braunelle, des Grünlings, des Stieglitzes: diese und andere ausführliche oder kürzere Reminiscenzen vollenden den Reichthum seiner staunenswerthen Kunstschätze. Das kostbare Colorit, die treue Ausführung und die Situationscharaktertstik erheben diesen Würger zur höchsten Stufe.

Nach unserer gründlichen Erfahrung sind meistens die alten, mehrere Jahre zählenden Vögel die fertigeren und vielseitigeren im Gesang. Es scheint demnach, als ob der Würger in der Freiheit als Einjähriger noch nicht mit seiner Ausbildung abgeschlossen habe, sondern auch später noch im Stande wäre, Neues zu lernen und namentlich sich im Vortrag zu verbessern. Indessen haben wir auch von jüngeren Männchen vorzügliche Leistungen gehört, wobei Talent und Gelegenheit zur Ausbildung die Grundlage bildeten. Eine wichtige und anregende Frage wirft sich dabei dem Vogelkundigen auf. Wo lernt der Dorndreher eine so große Anzahl von Gesängen wiedergeben? Denn es ist Thatsache, daß mancher Bewohner von Feld- und Gartenhecken, die weit vom Walde entfernt sind, dennoch vorzugsweise die nur in letzterem vertretenen Vögel nachahmt oder auch Weisen von solchen, welche die Rohr- und Schilfniederungen beleben. Unstreitig sind dies Errungenschaften, welche aus der Fremde heimgebracht werden.

Während des Winteraufenthaltes in den südlich gelegenen Ländern wohnt der Dorndreher mit mannigfaltigen Singvögeln zusammen und hört ihre schon lange vor dem Rückzuge in die Heimath beginnenden Vorträge, die er seinem Potpourrirepertoire mit aller Sorgfalt und Treue mehr oder weniger umfassend einverleibt. Sicherlich wird auch auf dem Zuge zufällig Gehörtes dem scharfen Gedächtniß tief eingeprägt und daheim einstudirt.

Höchst wahrscheinlich bereichert sich der begabte Vogel im Laufe

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_042.jpg&oldid=- (Version vom 28.1.2024)