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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Else hatte in ihrem Zimmer gestanden und in den Regen und den Sturm hinausgeschaut; sie weinte nicht mehr, sie war auf einmal still geworden. Das Gestern lag weit hinter ihr; es dünkte sie, als hätte sie geträumt. Warum vergaß sie auch, was Tante Ratenow so oft zu ihr gesagt, als sie noch ein Kind war: „Du mußt lernen, dereinst auf eignen Füßen zu stehen.“ Wer denkt aber an die Noth des Lebens im Kreise fröhlicher junger Gespielinnen, wenn das Dasein noch einem Maimorgen gleicht?

„Else!“ rief da eine Stimme. Sie fuhr herum; Tante Ratenow stand vor ihr.

„Es thut mir leid, Else, daß Du eine Sache falsch beurtheilst, die herzlich gut gemeint ist. Ich kann Dir nichts von alledem schenken, ich muß Dir wiederholen: Deine Verhältnisse sind nicht derart, daß Du wie ein bunter Schmetterling durch’s Leben gaukeln kannst – Du mußt schon zur fleißigen Biene werden. Wenn Du unsere Kinder unterrichten willst, so versteht es sich von selbst, daß Du Honorar dafür erhältst, wie jede Andere auch – das kann und darf ich Dir nicht ersparen; es ist ein falscher Stolz, wenn Du Dich weigerst es anzunehmen; und denkst Du darüber nach, wirst Du es einsehen. Das Leben ist lang, mein Kind, ich will indessen das häßliche Geld keineswegs in Deine Hände legen, sondern es sammeln für Dich und dafür sorgen, daß Du einen kleinen Fonds bekommst. Es zwingt Dich aber Niemand dazu, Else, hörst Du – den Unterricht zu übernehmen – Du bist Gast in meinem Hause und kannst es bleiben, so lange es Dir bei uns gefällt; die Entscheidung liegt bei Dir, Else.“

„Ich nehme es an und werde den Unterricht ertheilen,“ sagte das Mädchen leise.

„Das ist recht, Else. Im Uebrigen bleibt Alles beim Alten. Wie geht es Deinem Vater?“

„Er war erregt, er hatte einen Disput mit dem Bennewitzer; ich traf ihn bei Papa.“

„Den Bennewitzer?“ rief Frau von Ratenow so laut, daß das Mädchen sie erschreckt ansah. „Und das erzählst Du so beiläufig? Hat er Dich gesehen?“

„Ja, Tante.“

„Und was wollte er?“

Else schwieg einen Moment. Sie hatte es herausgefühlt, daß ihr Vater im Begriff stand, einer falschen Idee nachzugeben.

„Es war wegen Bennewitz,“ sagte sie, „der Vater will, glaube ich, durch das Gericht einen Antheil daran erzwingen.“

„Ist er toll geworden?“ rief die alte Dame zornroth, und sich besinnend, daß sie die Tochter des Mannes vor sich habe, fügte sie hinzu: „Du verstehst das nicht, Else, und ich meine es nicht so schlimm; muß mal reden mit Deinem Vater, wird sich da eine schöne Brühe einrühren. – Wie sah er denn aus, der Bennewitzer, Else?“ Und sie strich mit der Hand über des Mädchens Gesicht. „Wir wollen uns nun recht behaglich hier einrichten auf den Winter,“ setzte sie hinzu, ohne eine Antwort abzuwarten.

„Tante Lott,“ sagte das junge Mädchen mit traurigem Lächeln, als sie nachher in das gemüthliche Altjungferstübchen trat, „wenn ich einmal wieder etwas vergessen sollte, so erinnere mich daran.“

„An was denn, mein Rosenknöspchen?“

„Daran, daß ich ein armes Mädchen bin.“

(Fortsetzung folgt.)




Die Kunst, alt zu werden.

„Ein Zaun(könig) währt drei Jahr, ein Hund drei Zaunalter, ein Roß drei Hundsalter, ein Mann drei Roßalter, macht 81 Jahre.“0 Alter Spruch.


Die zahllosen Schattenseiten des Lebens, der Ueberschuß von Leiden und Enttäuschungen, welcher jedem Sterblichen beschieden ist, waren nie im Stande, den Werth des Lebens in den Augen der Menschen zu verringern. Nur ausnahmsweise treiben Verzweiflung oder krankhafte Verirrung Einzelne in den freiwilligen Tod, im Allgemeinen behält der Selbsterhaltungstrieb sein oberstes Recht, und der Herr der Schöpfung, welcher die Naturkräfte bezwingt, trotzt auch dem Tode, sucht die kurze Spanne seines Lebens zu verlängern. Wahrhaft großartig ist die Geschichte dieses uralten Kampfes, welche mit der Geschichte der Heilkunde zusammenfällt, und namentlich ist die Neuzeit reich an Siegen, welche der aufgeklärte Geist über die Sendboten des Todes zu erringen wußte. Die richtige Bekämpfung einer großen Anzahl von Krankheiten und die praktische Durchführung hygienischer Grundsätze im öffentlichen und privaten Leben haben viel dazu beigetragen, die Durchschnittsdauer unseres irdischen Daseins zu verlängern, und verheerenden Epidemien vielfach Einhalt geboten.

Es gab aber auch Zeiten, wo nicht die Fackel des Verstandes, sondern die Irrlichter des Aberglaubens der Menschheit voranleuchteten und in welchen das naturgemäße Streben, ein hohes Alter zu erreichen, die wunderlichsten Früchte zeitigte.

Schon in der Geschichte des Alterthums finden wir Spuren derartiger abenteuerlicher Ideen, die zu den vernunftgemäßen Lehren der griechischen Aerzte und Philosophen den grellsten Gegensatz bilden. Denn im Großen und Ganzen war in der classischen Welt die richtige Ansicht maßgebend, daß durch mäßiges Leben und durch Leibesübungen die Gesundheit erhalten und das Leben verlängert werde. Gab es auch damals heidnische Zauberer und Beschwörer in Hülle und Fülle, enthielt auch die mythische Religionslehre der Griechen und Römer manche Legenden von wunderbaren Mitteln, die das Leben verlängern sollten, so brach sich doch im Volks- und Staatsleben eine gesunde Anschauung Bahn, und mehr als jemals war im alten Griechenland die Erziehung der Jugend nach hygienischen Gesetzen geregelt.

Darum sind uns auch aus jener Zeit nur wenig Beispiele überliefert worden, in welchen die ärztliche Kunst von Charlatanen mißbraucht wurde. Zur eigentlichen Blüthe gelangte die Zauberkunst, durch allerlei falsche Vorspiegelungen der leichtgläubigen Menge ein hohes Alter zu versprechen, erst in der Nacht des Mittelalters. Die Völker hatten damals jede Fühlung mit der Natur verloren, die Gelehrsamkeit jener Epoche erging sich in allerlei phantastischen Betrachtungen, und damit mußte auch die Heilkunde, die in der Naturwissenschaft fußt, auf die gefährlichsten Abwege gerathen. Wohl gab es im Mittelalter hier und dort wirkliche Aerzte, welche die alten Vorschriften griechischer und römischer Autoren blind befolgten, im Großen und Ganzen aber lag die Ausübung der Heilkunde in den Händen unwissender Mönche, Bader, Schäfer, ja sogar Scharfrichter. Unter solchen Umständen schoß das Unkraut des Aberglaubens gar üppig in die Höhe und die Heilkunst wurde durch die Zauberkunst ersetzt. Der Glaube an Wunder unterstützte ja dieses Treiben.

Da fehlte es nicht an Mitteln, das Leben zunächst vor allerlei Gefahren zu schützen. Zu dem Schatze der Zaubermittel aus der Heidenzeit brachte der erfinderische Geist kluger Schwindler neue Beiträge, und namentlich die Kunst des „Festmachens“ blühte in den oft wiederkehrenden Kriegsjahren. Stets fanden sich Zauberer und Hexen, die den Krieger hieb- und stichfest zu machen wußten, und der Glaube an diese Kunst erhielt sich bis in die neuere Zeit hinein. Durch solche Zaubermittel ist namentlich ein Passauer Scharfrichter berühmt geworden, der im Jahre 1611 den Soldaten des Erzherzogs Matthias einen Talisman gegen Hieb, Schuß und Stich verkaufte. Das vielbegehrte Mittel bestand aus einem Stücke Papier von Thalergröße, welches mit allerlei wunderlichen Figuren bezeichnet war und welches die biederen Soldaten unter Beobachtung von geheimnißvollen Vorschriften verschlingen mußten. Der Scharfrichter war weit und breit bekannt, und die „Passauer Kunst“ konnte noch von seinen Nachkommen ausgebeutet werden. Viele brauchten zu diesem Zwecke keinen Scharfrichter, sondern gingen um die Mitternachtsstunde auf Hochgerichte, an Kreuzwege u. dergl. und ließen sich dort von dem Teufel selbst festmachen.

Aber die Talismane gegen den Tod durch Waffen genügten nicht. Der große Haufen wollte ein wirksames und bequemes Mittel zur Verlängerung des Lebens überhaupt haben, und sein Wunsch wurde stets befriedigt, so auch in diesem Falle, wo ihm sogar die Wissenschaft entgegenkam.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_058.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)