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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

aber sie lagen doch in ihrem Innern und waren die Quelle ihrer plötzlichen Thränen.

„Ja, gelt – du kannst lustig sein!“ rief sie dem Dschapei zu, welches gar fröhlich im thauigen Grase hin und wider sprang und immer auf’s Neue den Hals schüttelte, als ob ihm das Klingen und Bimmeln seines Glöckchens eine besondere Freude wäre.

Ein Seufzer noch, dann trocknete sich das Mädchen Augen und Wangen und wanderte rüstig dahin.




3.

Als Nannei den Hof des Almbauern erreichte, fand sie schon alles zur Almfahrt bereit; brüllend und die Flanken mit dem Schweife peitschend standen die Kühe in der Einfriedigung vor dem Stalle, und ihre Glocken klangen mehrtönig ineinander.

Eine Zeitlang wurde noch so hin und her geredet – die Bäuerin gab der jungen Sennerin ein Schock guter Lehren mit auf den Weg – dann setzte sich der Zug in Bewegung und wand sich langsam die Straße dahin, von Unterstein über die Schönauer Wiesen gegen den Schapbacher Forst und Ilsank zu.

Voraus ging der Bauer, den schweren Bergstock mit den überhängenden Armen quer wider den Rücken pressend. Das war so ein richtiger Hochlandsbauer, hochaufgeschossen, eckig und sehnig, mit einem harten und strengen Gesicht. Ihm folgte der weißhaarige Spitz, der ab und zu die kleine Heerde bellend umkreiste und der es durchaus nicht leiden wollte, daß sich die eine oder andere der vierzehn Kühe grasend am Wege verhielt. Nannei, welche ihren Pfleglingen, hinter denen sie gemächlichen Schrittes einherging, die frischgrünen Leckerbissen gern gönnte, drohte dem zänkischen Spitz des Oeftern mit dem langen, dünnen Haselnußstabe, den ihr der Bauer beim Auszuge gereicht hatte. Zu dem Zwecke jedoch, zu dem sie diesen Stab erhalten: die Kühe zu raschem und gleichmäßigem Marsche anzutreiben – dazu nützte sie ihn niemals, da genügte ihr im Nothfalle ein gutmüthig mahnendes Wort oder ein leichter Klaps der freien Hand. Recht viele Sorge machte ihr das Dschapei.

Gleich zu Anfang des Marsches war es von einer Kuh getreten worden, sodaß es dem Mädchen eine Zeitlang nur mühsam nachzuhinken vermochte. An einer Quelle kühlte Nannei dem Thierchen die schmerzende Stelle mit frischem Wasser; da ward es dann besser. Wie aber das Dschapei den blessirten Fuß erst wieder richtig gebrauchen konnte, da sprang es bald rechts, bald links vom Wege – und wie die kleine Karawane den Schapbacher Forst durchzog, da kam es ein um das andere Mal die Lust an, geradaus hinein zu laufen in den weiten, weiten Wald. In jeden Busch mußte es hinein gucken und durch jede Staude hindurch schliefen – dabei blieb es auch einmal mit dem Halsriemen an einem geknickten Aste hängen. Und ewig und ewig verhielt es sich am Wege und schaute mit neugierigen Augen rings um sich her.

Es war für Nannei’s Mühe nur gut, daß hinter ihr noch Einer nachkam, der das Dschapei immer wieder vorwärts trieb, wenn es dem Rufe des Mädchens nicht mehr folgen wollte.

Das war der alte Wofei, der auf einem kleinen Handwägelchen das Almergeräth hinter sich her zog: den kupfernen Käsekessel, das blankgescheuerte Butterfaß, die Milchkübel und Milchgeschirre und was zur Arbeit da droben sonst noch nöthig ist.

Wofei – oder richtig genannt Wolfgang Haberecker, mochte gut seine sechszig Jahre zählen. Es war eine verwitterte, in sich geduckte Gestalt, deren landübliches Gewand fast bis zur äußersten Grenze der Möglichkeit abgetragen erschien. Unter dem schäbigen Hute quollen dicke Büschel weißgrauer Haare hervor; ein gleichartiger, struppiger Bart verhüllte das Gesicht fast bis zu den trüben, halb schon erloschenen Augen; mitten aus diesem Barte hob sich eine graue bucklige Nase. Wofei hatte eine gewisse schnuffelnde Art, den Mund zu verziehen, wobei das dickfleischige Nasenende bald nach der rechten, bald nach der linken Seite wackelte.

Als ein Bursche, nahe den Dreißigern, war er von irgend woher an den Königssee gekommen und hatte hier so an die zwanzig Sommer als Holzknecht in den Bergen gearbeitet. Man sah ihn während dieser Zeit nur am Sonntage, und da nur im Wirthshause, wo er den Lohn der Woche verzechte, vertanzte und verspielte. Während der Wintermonate, in denen die Berge für den menschlichen Fuß verschlossen sind, pflegte er sich in’s flachere Land hinaus zur Mithülfe an Weg- und Bahnbauten zu verdingen. Mit dem Frühling kehrte er zurück und nahm die Holzaxt wieder auf den Rücken. So ging das fort, bis ihm endlich für die rauhe Art solch’ eines Lebens die Kraft zu schwinden begann.

Und das kam so ganz plötzlich – vor fünfzehn Jahren etwa. Da fiel er mit einem Mal so in sich zusammen, wie – eine Bäuerin würde sagen: „wie a Dampfnudl, die als an unfertige aus der Pfannen kommt.“ Er hielt die Berge nicht mehr aus – für ein, zwei Tage schon, aber nicht mehr auf die Dauer – und so miethete er sich zu Unterstein für wenige Mark des Monats in eine baufällige Hütte ein, die von einer Beschaffenheit war, daß sich selbst die Ratten und Mäuse darin nicht mehr behaglich fühlten. Zu allen Arbeiten, für die seine Kraft noch ausreichte, ließ er sich nun verwenden, als Träger, als Karrenzieher, als Botengänger, als Brodlieferant für die Almerinnen und so weiter. Was er hiermit über sein dringlichstes Lebensbedürfniß verdiente, das vertrank er in Schnaps. Dabei verdummte er so allmählich – und wenn er betrunken war – und das war er fast zu allen Stunden – führte er wirre Reden, an denen die Leute viel zu lachen fanden, besonders wenn er so in seiner confusen Art über die Weiberleute loszog. Ja – ein Weiberfeind war er immer gewesen, der Wofei. Auch in seinen früheren Jahren hatte man niemals etwas davon gehört, als ob er sich je mit einem Mädchen eingelassen hätte – nicht einmal am Tanzboden; er tanzte stets allein, wobei er den Estrich stampfte und die Hände auf Sohlen und Schenkel schlug, daß es nur so hallte und klatschte; ab und zu im Tanze warf er auch den einen Fuß empor an die niedere Decke, an der man überall die Spuren seiner Schuhnägel sah; und zu all dem schnackelte und fauchte er wie ein Spielhahn.

Diese Zeit war nun freilich für den Wofei schon lange vorüber. Nun war er froh, wenn er so langsam mit knackenden Knieen den einen Fuß vor den andern brachte.

So mußte auch heute der Bauer ein um das andere Mal zurückrufen, daß sich der Wofei tummeln solle. Der Alte machte dann immer ein paar Dutzend hastigere Schritte, worauf er wieder in seinen trägen, schleppenden Gang verfiel. Der Nannei war es nur lieb, wenn er zurückblieb, einmal wegen des Dschapei und dann – Wofei roch so entsetzlich; auf zehn Schritte in der Runde um ihn war die Luft von Schnapsgeruch erfüllt. Und dazu hatte sie auch sonst noch einen so seltsamen Widerwillen gegen diesen Menschen; er starrte sie immer so eigenartig an, wenn er in Unterstein oder am See drunten ihren Weg kreuzte, und dabei sprach er stets mit Worten auf sie ein, in denen sie keinen Sinn zu finden wußte.

Zwei gute Stunden hatte der Marsch schon gedauert. Ilsank lag den Wandernden lange im Rücken und die Wasser der Wimbachklamm rauschten bereits hinter ihnen. Die Sonne war schon empor gestiegen über die Berge, aber die laubreichen Bäume, unter denen der Zug sich dahin wand, gaben noch genügenden Schatten. Von dem Bergbach einher, der da zur rechten Seite des Weges über weiße Steine dem Thale entgegen hüpft, blies ein leichter, kühlender Luftzug quer über die Straße, strich lispelnd dahin durch das Laub des ansteigenden Waldes und fuhr dann leise pfeifend empor an den schroffen Wänden des Schüttaipls.

„Grüß’ Gott!“ hörte Nannei plötzlich den Bauer da vorn sagen.

„Grüß’ Gott auch!“ klang eine laute, kräftige Stimme entgegen.

Nannei reckte den Kopf, doch sah sie Niemand des Weges kommen; sie gewahrte vor sich außer Bäumen und fernen Bergen nur den Futterstadel, von dessen langgestreckten Raufen das Hochwild im Winter seine Nahrung holt.

„Grüß’ Dich Gott, schön’s Deandl!“ scholl es da mit einem Male seitlich vom Wege her – und im Schatten der vorderen Stadelwand sah Nannei einen feiertäglich gekleideten Burschen im Grase liegen.

Erröthend gab sie den Gruß zurück und schritt vorüber.

Schön? War sie denn schön? Zum ersten Mal hatte ihr das Einer nun so geradeweg ins Gesicht gesagt – und dazu noch Einer, den sie Zeit ihres Lebens nicht gesehen hatte; das war doch eine Keckheit!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_066.jpg&oldid=- (Version vom 21.6.2020)