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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

No. 5.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Ein armes Mädchen.
Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Und es ging doch nicht, daß sie immer daran denken konnte. Else war am andern Morgen durch den herbstlichen Garten gewandert und jeder Baum hatte ihr zugenickt: kennst Du mich noch? Jedes Plätzchen, wo sie als Kind gespielt, hatte ihr süße traute Worte in das junge schmerzlich berührte Herz geflüstert, die Sonne hatte so hell und klar über dem alten stattlichen Hause geschienen, und weit in das Land hinaus kannte sie ja jedes Dach, jede Windmühle, jeden Hügel – Nein, sie war dennoch daheim, sie war dennoch nicht arm!

Wie konnte sie nur trübe Gedanken festhalten bei so viel Lust, Frohsinn und Herzlichkeit? Es war ja zu hübsch in dem gemüthlichen Eßzimmer, bei der wohlbesetzten Tafel; zu schön, wenn Tante Ratenow Etwas erzählte aus der Vergangenheit; es war wie ein neckisches Sonnenblitzen, wenn Frau Frieda lachte und die Kinder so hell mit einstimmten, und Moritz behaglich am Ehrenplatze saß, den Braten tranchirend und so sorgend für Alles.

„Else, hast Du auch wirklich keinen Hunger mehr? Na, iß nur, kleine Deern; sieh ’mal dies appetitliche Stückchen vom Meister Lampe, wie? – So ist’s recht; – schmeckt es?“ – Und nach Tische nahm er den kleinen Buben auf den Rücken, und dann ging es in den Garten hinaus wie die wilde Jagd, die Wege hinauf und hinab, Alle mit einander, daß es ein Jubeln und Kichern und Lachen wurde, bis Frieda erklärte: „Halt ein, Moritz, wir greifen Dich doch nicht!“

Und dann die Spazierfahrten in’s herbstliche Land hinein mit Frieda und Tante Ratenow. Zuweilen flog auch das elegante Coupé der jungen Frau durch die Gassen des Städtchens, und die Commis der Läden, in denen man gerade Einkäufe machen wollte, rissen ehrerbietig den Schlag auf und halfen den Damen beim Aussteigen. Und Abends saß immer Besuch da, und Johann klopfte dann an Tante Lott’s Thür: ob Fräulein von Hegebach nicht ein wenig herunter kommen wolle zur jungen Gnädigen. Und wie rasch konnten dann die kleinen Hände vor dem Spiegel geschäftig das duftige Haar ordnen und die rosa Schleife hineinstecken, besonders wenn der Alte hinzugefügt hatte: „Es soll musicirt werden.“

Wer hätte gedacht, daß die verhaßten Clavier- und Singestundcn noch ein solches Gefolge von schönen Schwestern haben würden? Und wer hätte gedacht, daß Etwas in der Welt so singen und klagen könne, wie die kleine braune Geige, die Lieutenant Bernardi im Arme hielt?

Der Beginn von Else’s Thätigkeit war noch hinausgeschoben. Sie wußte nicht, daß Moritz zu seiner Frau heimlich gesagt: „Friedchen, hörst Du? Du willst es absolut nicht, daß die Kinder vor Januar schon eingespannt werden!“ Und Frieda hatte, als Else die junge Frau bat, sie möge bestimmen, wann der Unterricht beginnen sollte, sehr ruhig geantwortet: Man habe ja noch lange Zeit, dies zu überlegen; vor dem zweiten Januar dürfte sie nicht daran denken, die Kinder einzusperren; Moritz müsse auch erst eine Schulstube einrichten mit gesundheitsdienlichen Sitzen, die Aelteste sei gar so arg im Wachsen, und überdies – vor Weihnacht hätten die Kinder doch keine Andacht.

Da half nun auch kein Reden der Tante Ratenow, denn Frieda’s Meinung mußte als die der Mutter respectirt werden, und außerdem war es der jungen Frau viel zu angenehm, in der doch immer stillen Trauerzeit eine Gesellschafterin zu haben, als daß sie einer „vernünftigen Vorstellung“ Gehör gegeben hätte. – Und Moritz? Nun, der stand, wie immer, unter dem Pantoffel, wie die alte Dame innerhalb ihrer vier Wände halblaut zu Tante Lott sagte.

Else hatte in Frieda’s reizendem, blau decorirtem Salon auch ihre ehemalige Pensionsgefährtin, Fräulein Annie Cramm, wieder gefunden. Diese war natürlich gleich nach der Confirmatiou in’s elterliche Haus zurückgekehrt und schon seit zwei Jahren salonfähig. Ihr mageres Gesicht schaute noch ebenso bleich und unreif mit den blaßblaucn Augen in die Welt, und das Haar war noch ebenso strohblond wie früher, aber sie trug es mit äußerster Sorgfalt geordnet, und die Toilette vom gediegensten Stoffe umschloß tadellos den etwas eckigen Wuchs der jungen Dame.

„Sie ist eine Gans,“ sagte Frieda sehr offenherzig.

„Aber eine mit goldenen Federn, liebes Kind,“ fügte Tante Ratenow hinzu; „das entschädigt für Vieles.“

Else plauderte so recht nach Herzenslust mit Annie Cramm von der Pension; die junge Dame kam sogar zuweilen zu Tante Lott hinauf. Mitunter konnte sie dann sehr viel seufzen und kummervoll aussehen, und nebenbei führte sie gewissenhaft Buch über jeden Ball und über Jeden, mit dem sie Quadrillen und Cotillon getanzt hatte. Da sie eine kleine Sopranstimme besaß, wurde sie öfters zu Frieda’s musikalischen Abenden gezogen. Sie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 73. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_073.jpg&oldid=- (Version vom 7.5.2019)