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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

und um es nicht wieder in die Hände der bestialischen Mutter zu geben, wurde es von Dr. Barnardo aufgenommen, und in seiner Anstalt ist es noch diesen Tag der allgemeine Liebling unter dem Namen „das Feuerkind“, „the fire baby“.

Ein anderer Fall, den uns Dr. Barnardo selbst beschreibt, ist die Geschichte eines jungen Diebes, den er mühsam eingefangen, dann geduldig und liebevoll „gezähmt“, das heißt bekehrt hat. Es ist dies so lebhaft geschildert, daß man es nicht ohne Theilnahme für den kleinen Schurken lesen kann, und schließlich die Freude mit erlebt, das gerettete Kind als einen besonders braven und grundehrlichen Menschen zu sehen.

Fragen wir nun: was würde wohl aus den 5000 Kleinen geworden sein, wenn es keinen Dr. Barnardo in London gäbe? – so ist die Antwort nicht schwer. Ein großer Theil würde schon in der Kindheit vor Hunger, Frost und Krankheit elendiglich umgekommen sein; ein anderer Theil wäre den Armenhäusern, Hospitälern und besonders den Gefängnissen zugefallen; einzelne Ausnahmen möchten sich wohl durchgeschlagen und eine leidliche, vielleicht gute Existenz erlangt haben, immer aber ohne die sittliche Grundlage, die Dr. Barnardo ihnen einzuimpfen weiß.

Solches Material hat der Dr. Barnardo umgeschaffen in gesittete, brauchbare, rechtschaffene und glückliche Menschen.

Sollen wir den wunderbaren, von Menschenliebe durchdrungenen Mann nicht hochachten und seinem segensreichen Werk guten Fortgang wünschen? Möge es ferner gedeihen und als herzerhebendes Beispiel durch begeisterte Nachahmung zu einem Heil aller edelstrebenden Völker werden!

Agnes W. Ruge.     

Dschapei.

Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer.
(Fortsetzung.)

Das Dschapei hüpfte zurück auf den Weg, sah noch einmal empor zu dem fremden Gesichte mit dem herausfordernd aufgedrehten Schnurrbart und den verwegen blitzenden Augen – und als der Bursche, die Riemen des leeren Bergsackes mit den Daumen höher auf die Schultern rückend, lang ausgreifenden Schrittes ihm folgte, eilte es in hohen, bockenden Sätzen die schmale, grasdurchwachsene Straße dahin bis an Nannei’s Seite, wo es, rückwärts blickend, mit gespreizten Füßen wieder stehen blieb.

Dieses Gebahren des Thieres veranlaßt auch Nannei, den Kopf zu wenden – und da sah sie jenen Burschen hastenden Ganges dahergeschritten kommen und sah sich von ihm auf eine weite Strecke schon mit lächelndem Kopfnicken begrüßt.

Nun war sie eingeholt, und da er an ihre Seite trat, sagte er:

„Hast ’leicht ’was dagegen, schön’s Deandl Du, wann ich gleichen Schritt halt’ mit Dir?“

„Ah na – der Weg is ja frei für an jeden,“ gab Nannei leichthin zur Antwort.

„Du hast Recht, aber weißt, ich mein’ halt, lieb verplauscht, da wird er ei’m dengerst kürzer.“

„Mein – da wird er Dir schon lang bleiben müssen, der Weg. Lieb plauschen – das is gar a schwere Sach’ für den, der’s net versteht. Ich hab’s halt nie net g’lernt.“

„Mußt halt a bißl Zutrauen haben zu mir,“ lachte der Bursche, während er seinen Ellbogen an den Arm des Mädchens drückte, „da kannst es nachher schon lernen.“

Mit einem scheuen Blicke wich Nannei zur Seite. „Ich dank’ Dir recht schön für Dein’ guten Willen,“ sagte sie, „aber weißt, für a solchene Schul’ hab’ ich halt so an viel schwachen Kopf.“

„Schau, schau – stolz bist aber gar net – und Dir thät’ man’s doch verzeihen, Dir mit Dei’m G’sichtl,“ erwiderte der Bursche lächelnd, indem er sich in Stimme und Art der Rede stellte, als ob er Nannei’s unmuthige Abfertigung in ihrem wörtlichen Sinne genommen hätte. „Ja, ja – B’scheidenheit is schon recht – aber weißt, das is auch nix, wann man so gar g’ring von ei’m selber denkt. Sixt, da hab’ ich schon an bessern Glauben von – – Geh weiter!“ Die beiden letzten Worte galten dem Dschapei, das dem Burschen, an seiner Seite hertrippelnd, immer und immer mit gehobener Nase die Joppentasche beschnupperte. Nun ward es von einer hartknochigen Hand recht unsanft bei Seite geschoben, und das Dschapei, das wohl nach dem vertrauenerweckenden Beginne seiner Freundschaft mit dem Burschen eine solche Störung derselben nicht erwartet hatte, blieb ganz verdutzt am Wege stehen und sah eine Weile mit blinzelnden Augen zu dem launischen Freunde empor; dann schüttelte es den Kopf, machte ein paar Sprünge und schmiegte sich an die Röcke des Mädchens, welches dem Thier im Weiterschreiten mit freundlicher Hand den Backen tätschelte.

„Wohin willst denn?“ frug Nannei den Burschen, und sie wollte durch diese Frage nicht das Ziel seines Weges erfahren, sondern nur, wie lange sein Weg ihn noch an ihrer Seite hielte.

„No, ich hab’ heut’ an ganz an saubern Marsch – ’nauf am Trischübl, von da am Funtensee ’nüber und nachher über’s steinerne Meer ’nunter nach Saalfelden.“

„Du“ – sagte Nannei hastig, „da wirst aber net viel ausrichten, wenn Du noch lang so stad dahergehst neber mir. Ja – da kommst g’wiß in d’ Nacht ’nein. Das is a Weg von gut a zehn a zwölf Stund’.“

„Macht nix! Macht nix! Du bist es schon werth, daß man sich a wengl verhalt’. Und wenn’s auch jetzt a bißl langsam geht, dafür geht’s nachher um so g’schwinder. Und was an Anderer mit Müh’ und Plag’ in zehn a zwölf Stund’ macht, das mach’ ich in achte und neune. Weißt – Schmalz mußt halt haben – in die Füß’.“

Einen flüchtigen Blick warf Nannei über die hohe, geschmeidige Gestalt des Burschen. Dann frug sie, da sie aus Schicklichkeit doch etwas reden mußte:

„Bist a Holzknecht?“

„Na – das G’schäft is mir z’pechig.“

„Bist a Senn?“

„Na – das ist mir z’milchig.“

„Du hast aber an heiklen Gusto. Was bist denn nachher sonst so b’sonders – han?“ [1]

„Ich hab’ mir a G’schäft ’rausg’sucht, bei dem a ganz a gut’s Auskommen is – und gar net amal plagen mußt Dich dabei: ich bin der einzig’ Sohn von ei’m Bauern mit a Stuckera sechszig Küh’.“ Der Bursche schien sich zu wundern, daß seine Mittheilung auf Nannei so wenig Eindruck machte.

„Soso – jaja!“ das war ihre ganze Antwort.

„Ja – ich bin der Suttner Korbini von Saalfelden.“

„Soso – a Tiroler bist! Und wie hast g’sagt, daß d’heißt? Korbini?“ kicherte Nannei. „Das is amal a seltsamer Nam’! Steht denn der im Kalender?“

„No freilich! Aber weißt, a g’spaßiger Heiliger is der schon, auf den ich ’tauft bin, der heilige Korbinian! Das muß schon a recht guter Kerl gewesen sein, der – hat sich bei lebendigem Leibe d’Haut ’runterziehen lassen! Jetzt da bin ich schon anders.“

„Na, hörst – wie kann man denn so reden von ei’m heiligen Martyrer? Du mußt schon a recht christlicher Mensch sein!“

„No weißt – am Sonntag halt auf a paar Stund’.“

„So ’was z’sagen, da thät’ ich mich doch schämen!“ zürnte Nannei mit offener Entrüstung.

Korbini lachte und zog aus der inneren Joppentasche eine kleine Pfeife hervor, die er aus einem in den linken Hosenträger eingeknüpften Katzenbalge mit Tabak zu füllen begann.

„Geh weiter, Scheckin, geh – was bleibst denn allweil stehn!“ rief Nannei, während sie einer braun und weiß gefleckten Kuh die Hand mit leichtem Schlage auf den breiten Rücken klatschte.

„Du, ich meine allweil,“ sagte Korbini, „mit Dir und mit der Scheckin is net ganz richtig. Die thut ja ganz verliebt zu Dir. Allbot schaut’s um, ob denn noch da bist.“

  1. Ein Fragelaut, welcher mit dem gleichen Nasentone gesprochen wird, wie die französische Präposition dans.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_084.jpg&oldid=- (Version vom 1.3.2024)