Seite:Die Gartenlaube (1884) 095.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

eine einheitliche oder, besser gesagt eine einzige Augenkrankheit, die man „schwarzen Staar“ ansprechen könnte, giebt es in der heutigen Krankheitslehre nicht mehr. Das, was man früher auch in den Lehrbüchern so benannte, hat sich nämlich mit Hülfe der neueren Untersuchungsmittel, zumal des Augenspiegels, schon beim Lebenden in eine recht stattliche Zahl von besonderen Krankheiten aufgelöst, sodaß die ärztliche Wissenschaft eigentlich gar nicht mehr vom „schwarzen Staar“ sprechen darf, sondern nur von ganz bestimmten Erkrankungen einzelner Theile des inneren Auges, welche das Bild desselben, falls ihrem Verlaufe kein Einhalt geboten wird oder geboten werden kann, in ihren Endstadien zuwege bringen. Einige derselben wollen wir nun im Folgenden besprechen und auch, soweit dies ohne Zuhülfenahme von Farben einigermaßen befriedigend geschehen kann, abbilden.

Die Organe, deren zahlreiche Krankheiten man als „schwarzen Staar“ früher zusammenfaßte, sind vorzugsweise der Sehnerv, die Netzhaut und die Aderhaut.[1]

Fig. 5.
Schwund des Sehnerven.
(Augenspiegelbild.)

Am häufigsten führt die Entzündung des Sehnerven zu solchem, wenn sie in Abzehrung übergeht; doch kann die letztere auch ohne vorhergegangene Entzündung sich entwickeln, zumal in Folge von Gehirn- und Rückenmarks-Erkrankungen, deren erste Erscheinung sie sogar nicht selten bildet. Durch die Abzehrung der Wurzel des Sehvermögeus geht dieses dann meistens rasch zu Grunde, wenn nicht durch den Gebrauch entzündungswidriger Mittel oder Anwendung von Strychnineinspritzungen in die Umgebung des Auges oder durch den elektrischen Strom dem traurlgen Leiden Stillstand geboten werden kann, was immerhin manchmal der Fall ist. Unerläßlich ist aber, soll die Aussicht auf Erfolg nicht alsbald ganz trügerisch werden, daß sehr früh die nöthigen Gegenmaßregeln ergriffen werden. In der Regel zögern derartige Kranke aber zu lange! Bei der Untersuchung mit dem Augenspiegel (vergl. den Artikel darüber in Nr. 7 1883) zeigt sich ein Bild, wie Fig. 5 es andeutet, wobei besonders die schneeweiße (seltener graue oder grünliche Farbe des im gesunden Zustande rosa gefärbten Sehnerven ein Hauptmerkmal bildet; mit dieser Entfärbung ist eine Vertiefung (Fig. 6 b) der regelrecht etwas gewölbten (vergl. die punktirte Linie a Fig. 6) Sehnerveneintrittsstelle verbunden!

Fig. 6.

Stellt die Abzehrung des Sehnerven meist ein zuerst im späteren Alter auftretendes erworbenes Leiden dar, so bildet dagegen eine andere Form des sogenannten schwarzen Staars, die von den Laien als „angeborene Nachtblindheit“ bezeichnet wird, weil die betreffenden Kranken anfänglich blos in der Dämmerung und im Halbdunkel der Nacht schlecht sehen, ein angeborenes Uebel. Es ist in sehr vielen Fällen eine Folge von Ehen unter nahen Verwandten und trifft nicht selten mehrere Glieder einer und derselben Familie. Bei dieser verhängnißvollen Krankheit bietet jedoch wenigstens der eine Umstand einigen Trost, daß sie., obwohl von Geburt an zunehmend, doch nur sehr langsam fortschreitet, sodaß das traurige Ende meist erst in den dreißiger, ja vierziger Jahren des Lebens zu befürchten ist. Das Augenspiegelbild derselben aber (Fig. 7) ist ein so überraschend charakteristisches, daß es gar nicht verkannt werden kann. Und selbst dieses verhängnißvolle Erbtheil aus unbedacht geschlossenen, bekanntlich auch noch andere Leiden mit sich bringenden Verwandtschaftsehen läßt noch in manchen Fällen eine zeitweise Besserung oder doch einen Stillstand durch zweckentsprechende Maßregeln zu!

Fig. 7.
Angeborene Nachtblindheit.
(Augenspiegelbild.)

Viel erfolgreicher ist freilich wieder das ärztliche Handeln bei einer anderen Krankheitsform, der einfachen Entzündung der Ader- und Netzhaut; auch sie wird gewöhnlich zum sogenannten schwarzen Staar, da die damit Behafteten – leider muß dies gesagt werden! – in der Regel zu spät nach Rath gehen, wenn schon große Zerstörungen im Auge angerichtet sind, und weil sie dazu selbst dann noch nicht die gehörige Ausdauer besitzen, sondern einfach, wie bei so vielen Krankheiten überhaupt, vom Arzte – Wundercuren verlangen, die doch selbst der Geschickteste nicht vollbringen kann! Es ist überhaupt auffallend, ja fast unerklärlich, wie oft bei Krankheiten gerade des Auges der rechte Zeitpunkt zur Aufsuchung ärztlicher Hülfe versäumt wird: in dieser Beziehung kann man getrost sagen, daß viele, selbst „gebildete“ Patienten eher eines schlimmen Fingers halber, deren doch Jedermann zehn hat, sich umthun, als eines innerlich erkrankten Auges wegen, deren doch nur zwei zu verlieren sind!

Und selbst stark Kurzsichtige begehen diesen Fehler häufig genug – hauptsächlich deshalb, weil man ja fast allgemein gerade die Kurzsichtigkeit noch eher für eine Zierde der „Gelehrten“, die sie nicht, als für eine Krankheit des Auges hält, die sie doch wahrlich ist! Es tritt dies besonders schwer in’s Bewußtsein, wenn einmal, wie die Formel lautet, schwarzer Staar zu derselben hinzukommt! Dieser schwarze Staar ist dann aber meist nichts Anderes, als die traurige Endfolge einer Kurzsichtigkeit, die nicht wie eine Krankheit vorher betrachtet wurde: er beruht auf allmähliger Netzhautablösung (Fig. 8), bei der die Netzhaut von ihrer Unterlage sich getrennt hat und im Innern des Auges bei Bewegungen desselben lose herumschlottert, wie ein vom Winde bewegtes Spinngewebe! Die Patienten haben denn auch wirklich das Gefühl, als müßten und könnten sie die „Wolke vor ihrem Sehen“ wegwischen! Leider können sie das aber nicht, ja noch mehr, ihnen ist dann nicht mehr zu helfen, während doch durch zweckmäßige frühe Schonung und Behandlung ihrer Augen dieser „schwarze Staar“ hätte meist verhütet werden können! Arme, leichtsinnige Kurzsichtige!

Fig. 8.
Ablösung der Netzhaut im oberen Abschnitte derselben. Der Ring bei d ist eine Veränderung, wie man sie bei Kurzsichtigen fast immer findet.
(Augenspiegelbild.)

Zum Schlusse dieser unserer den Gegenstand durchaus nicht erschöpfenden Darlegungen über den „schwarzen Staar“ wollen wir noch eine kurze Krankengeschichte anführen, die geeignet ist, das Bild des gefürchteten Leidens durch einen Zufall zu erläutern, den der Laie kaum als Grundlage eines solchen vermuthet.

Einst kam ein Maurer in die Sprechstunde, ein kräftiger, breitschulteriger Mann, der nie im Leben über etwas anderes zu klagen hatte, als zeitweiliges Herzklopfen nach großen Anstrengungen. Nun hatte er den Tag vorher wieder einmal eine solche gehabt; er hätte allein einen mehrere Centner schweren

  1. Zur Orientirung über den Bau des Auges dienen Fig. 1 und 2 und deren Erläuterung in meinem Auffatze in Nr. 7 der „Gartenlaube“ des Jahrgangs 1883. Wir bitten den Leser, damit Wiederholungen vermieden werden können, gefälligst beide nochmals anzusehen.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_095.jpg&oldid=- (Version vom 25.8.2020)