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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

No. 7.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Ein armes Mädchen.
Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Der Tag nach solchem Feste ist in jedem Hause der gleiche; abgespannte Gesichter bei den Damen, bei den Herren etwas Kopfweh, die Zimmer noch nicht ganz in Ordnung, die Dienerschaft verschlafen, – das Beste bleibt dann immer noch das Frühstück.

Es war beinahe zwölf Uhr, als man sich zu diesem Zweck im Eßzimmer versammelte. Frau von Ratenow kritisirte streng, sie war offenbar nicht in der besten Laune; Frieda gähnte viel, und Tante Lott schwelgte in Erinnerungen und beschrieb noch einmal ganz genau jede Toilette.

„Wo ist Else?“ fragte endlich Moritz, der bis dahin ziemlich schweigsam gegessen und getrunken hatte.

„Sie kommt gleich, Moritz,“ versicherte Tante Lott, „sie wollte nur erst vollständig Toilette machen; sie will zu ihrem Vater, er soll nicht ganz wohl sein.“

„Glaube ich schon,“ meinte die alte Frau von Ratenow.

„Sah das Kind nicht entzückend aus, Cousine?“ fragte Tante Lott.

„O ja!“ war die kühle Antwort. „Uebrigens, wann fängt nun endlich der Unterricht an?“

„Vorläufig noch nicht,“ erklärte Moritz ruhig; „ich habe die Absicht, damit noch bis Ostern zu warten. Und da wollte ich Dir den Vorschlag machen, Tante Lott, Du drehst in diesem Jahre Deinen Plan um, gehst jetzt die vorgeschriebenen acht Wochen in Dein Stift und nimmst Else mit.“

Tante Lott’s gutes altes Gesicht war plötzlich leichenblaß gewordem „Jetzt hier fort?“ stammelte sie, „wo Else sich so gut – – ich bitte Dich, Moritz –“

„Mir paßt es gar nicht,“ erklärte Frieda; „ich hätte lieber gesehen, die Mädchen lernten endlich stille sitzen.“

„Ach ja, Frieda!“ rief Tante Lott tragischer denn je, „biete Alles auf! Wenn das Kind jetzt fortginge, es hieße ein Glück morden!“

Die junge Frau lachte hell und belustigt. „Tante, Du verdienst, daß Dir noch bei lebendigem Leibe ein Denkmal unter einer Thränenweide, mit Rosen umrankt, gesetzt wird.“

„Es reimt sich nicht immer, Herzen und Schmerzen, Cousine Lott!“ rief Frau von Ratenow. mit erhobener Stimme; „es sollte mir unendlich leid sein, hättest Du Dingen Vorschub geleistet, die wir mit allen Kräften abzuschwächen bemüht sind.“

Das Gesicht des alten Fräuleins war jäh erblaßt. „Ich habe nichts dazu gethan, Ratenowchen,“ sagte sie ernst und bestimmt; „so etwas heißt Niemand kommen, das ist ein Wunder, das Gott schickt. Es kommt –“

„Es kommt,“ fiel ihr Frieda noch immer lachend in’s Wort.

„Es kommt wie Nelkenduft im Winde,
Es kommt wie durch die Nacht gelinde,
Aus Wolken bricht des Mondes Schein!“

„Na ja, freilich,“ betonte Frau von Ratenow, „das ist sehr schön in’s Album zu schreiben – hier kommt’s auf was Anderes an. Echauffirt Euch übrigens nicht; sie kann ruhig bleiben und wird vernünftig sein.“

„Wie manche Mädchenjugend ist schon an diesem Wort zu Grunde gegangen!“ murmelte Tante Lott.

„Zum Lachen ist dies nun gerade nicht, Frieda!“ Die Augen der alten Dame richteten sich vorwurfsvoll auf das noch immer lachende schöne Gesicht der Schwiegertochter.

Die junge Frau wollte eben den Mund zu einer Erwiderung öffnen, als die Falten der Portière aus einander flogen und Else eintrat. Ihr ganzes Wesen schien gehoben, man sah es an den leuchtenden braunen Augen, an den rosigen Wangen. Ihr „Guten Morgen!“ klang so frisch und herzlich, es war, als fliege ein fröhlicher Sonnenstrahl durch das Gemach.

„Dein Vater ist nicht wohl?“ fragte Tante Ratenow freundlich.

„Leider nein, liebe Tante; ich will gleich nachher in die Stadt.“

„Es giebt Thauwetter,“ mahnte Moritz, „zieh Dir feste Stiefeln an.“

„Und wenn Du wieder zurück bist, Else, komm einmal auf mein Zimmer,“ setzte Frau von Ratenow hinzu.

„Eine Empfehlung von Herrn Lieutenant Bernardi.“ Der Diener war zu Moritz getreten und überreichte ihm ein Billet.

Tante Lott fühlte plötzlich ihre Hand ergriffen von einer kleinen zitternden Hand. Moritz las, er sah dabei sonderbar aus; er las es noch einmal, dann sagte er, ohne Jemand anzublicken:

„Lieutenant Bernardi läßt sich allerseits bestens empfehlen, er bedauert sehr, dies nicht persönlich thun zu können, die Zeit sei ihm leider zu knapp bemessen. Er reist nämlich heute Abend sechs Uhr nach H. ab, wohin er an Stelle eines erkrankten Cameraden ein Commando bekommen hat. Er bittet, dem Ueberbringer Dieses seine Geige, sowie die Noten übermitteln zu wollen, und hofft, daß den Damen der gestrige Tag wohl bekommen sei und daß man ihm ein freundliches Andenken bewahren werde.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 105. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_105.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)