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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)



„I, so fragt man die Leute aus, wenn man was Schönes hören will,“ erwiderte die alte Dame. „Nein, nein, es ist so, ich habe Moritz darum gebeten! Was meinst Du, was daraus Alles entstehen kann, wenn man nicht ordentlich mehr sieht? Dort kommt übrigens der Bennewitzer,“ unterbrach sie sich.

Ueber den Hof war ein Wagen gerasselt und hielt nun vor der Hausthür still; man hörte Schritte im Vorflur und Frau von Ratenow erhob sich mit einer gewissen Feierlichkeit.

„Guten Abend, mein lieber Hegebach!“ rief sie, kräftig seine Hand schüttelnd, „es freut mich, daß Sie uns drei einsamen Frauenzimmern die Zeit ein wenig vertreiben wollen.“

Er küßte ritterlich die dargebotene Hand und begrüßte Tante Lott und Else. Letzterer überreichte er eine weiße Papierdüte.

„Die Einzige, die im Glashause erblüht war,“ sagte er verbindlich. Es war eine prächtige Marschall Niel, die am graziösen Stengel schwer den wundervollen gelben Kelch neigte.

„Ich danke sehr, Herr von Hegebach!“

Sie stellte die Rose in eine kleine Vase und machte sich am Theetisch zu schaffen.

„Nichts Neues, lieber Hegebach?“ fragte Frau von Ratenow. Und damit war man im Gespräch. Die ganze Umgegend kannten sie ja Beide, und von der heutigen kamen sie auf die alte Zeit.

„Pardon, lieber Hegebach, ich bin zehn Jahre älter als Sie, gerade so alt wie Ihr Vetter, ich weiß das ganz genau.“

„Nein, Sie irren sich, Gnädigste,“ erklärte er sehr ruhig, „allerhöchstens acht Jahre sind Sie älter; als ich mich verheirathete, war ich sechsunddreißig Jahr, und Achtzehn sind seitdem verflossen. Denken Sie doch, daß mein ältester armer Junge schon Obersecundaner war.“

„Wahrhaftig, wie die Zeit vergeht, Hegebach!“

„Freilich, freilich, Else wird im Frühling Neunzehn!“ berechnete Tante Lott.

„Na, es giebt Aeltere als wir, Hegebach; Sie sind ja überhaupt noch ein junger Mann,“ meinte Frau von Ratenow.

Tante Lott warf einen Blick zu ihm hinüber; er sah vornehm, stattlich aus, auch recht gut noch – aber jung? Sie war schon lange nicht mehr jung, und viel mehr Jahre zählte sie auch nicht. Die Männer sind da einmal wieder allzusehr im Vortheil, dachte sie.

Else saß still dabei, ihre Gedanken waren so ganz wo anders. Was kümmerten sie alte längst vergangene Geschichten? Das lag Alles so weit, so unendlich weit im Duft der Vergangenheit. Eine qualvolle nervöse Unruhe bemächtigte sich ihrer wie so oft schon, sie wäre gern hinaufgegangen in ihr Stübchen, hätte sich an das Fenster gesetzt und gedacht und geträumt – es war so namenlos schwer, den traurigen sehnsüchtigen Gedanken nicht nachzugeben – nur um zu antworten, um zu hören.

„Wie geht es Ihrem Herrn Vater?“ fragte der Bennewitzer, und bog sich über die Lehne seines Sessels zu Else hinüber.

„Danke sehr! Ich glaube, so leidlich,“ erwiderte sie.

„Und noch nicht milder gestimmt?“ Er sprach es leiser und seine dunklen Augen senkten sich mit einem bittenden Ausdruck in die ihren.

Sie erröthete plötzlich. „Papa ändert seine Ansichten nicht über Nacht,“ sagte sie schroff und laut.

Frau von Ratenow’s Gesicht verfinsterte sich. „Else, willst Du den Tisch serviren lassen? bitte!“

Das junge Mädchen erhob sich, schritt lautlos über den weichen Teppich und verschwand im Nebenzimmer. Die Augen des Herrn von Hegebach folgten ihr; er strich langsam mit der wohlgepflegten weißen Hand über den dunklen Vollbart. Frau von Ratenow sprach von etwas Anderem, sie wollte augenscheinlich die schroffe Antwort vergessen machen. Als das junge Mädchen zurückkehrte, unterhielt man sich schon wieder lebhaft.

Herr von Hegebach war ein vorzüglicher Gesellschafter; er hatte weite Reisen gemacht, er war mit einer Menge von Leuten von Auszeichnung und Ruf verbunden. Er sprach von Lappland und vom Libanon, und er sprach gut, er hatte überall das Beste gekostet, er hatte am Nil geschwärmt und gezeichnet und am Niagara gestanden. Er war ein Mann, der das Leben kannte, von der angenehmsten Seite kannte. Und dort in dem finsteren Hause saß ein alter einsamer Mann, der nicht einmal über das Reisegeld zu verfügen hatte, um ein Bad zu besuchen zur Linderung seiner Leiden. Für einen mehrwöchentlichen Aufenthalt in Teplitz wäre das schon genügend gewesen, was der Vetter in Kairo für einen einzigen kostbaren Dolch verausgabt hatte.

Es waren häßliche, bitterböse Gedanken, die sich hinter Else’s weißer Stirn kreuzten. Alles, woran sie bis jetzt geglaubt, Liebe, Treue, Edelmuth, sie waren ja lächerliche veraltete Dinge. Heutzutage machte nur Eins glücklich, verlieh nur Eins Macht – Geld, Reichthum.

„Auf baldige gute Freundschaft, liebes Nichtchen!“ Der Bennewitzer hob sein Glas. Sie nahm das ihre und stieß mit ihm an.

„Ansehen dabei!“ sagte er ernsthaft.

Wieder überzog eine Purpurgluth ihr Gesicht; sie ärgerte sich über sich selbst, aber diese Augen hatten so sonderbare Blicke.

„Dableiben, Else!“ rief Frau von Ratenow, als gegen elf Uhr der Bennewitzer fortgefahren war, nicht ohne das Versprechen mitzunehmen, daß die Damen ihn bald auf Bennewitz besuchen würden.

Else kehrte zurück und setzte sich wieder. Tante Lott hatte sich schon mit dem Glockenschlage Zehn beurlaubt.

Frau von Ratenow sah ärgerlich aus und wußte doch nicht, wie sie beginnen sollte. „Du hast eine merkwürdige Art, den Bennewitzer zu behandeln, liebes Kind,“ sagte sie endlich; „es ist lächerlich, ihm eine Sache nachtragen zu wollen, die Dein Vater leichtsinniger Weise entrirt hat. Du solltest Dich zum Mindesten neutral verhalten.“

„Ich weiß, daß Herr von Hegebach vollständig in seinem Rechte ist, Tante,“ erwiderte Else und sah voll und groß die alte Dame an. „Ich trage ihm in keiner Weise etwas nach – das wäre thöricht.“

„Gut! Aber warum bist Du so – absprechend gegen ihn?“

„Ich bitte um Verzeihung, Tante –“ stotterte sie.

Frau von Ratenow erhob sich und gab ihr die Hand. „Ich weiß nicht, ob Du anders bist als Andere; – zu Denen, die schwer begreifen, gehörst Du sonst nicht. Gute Nacht, Else.“

Wie gejagt, flog das Mädchen die Stufen hinan und in ihr Zimmer. Nein, es war nicht möglich, das hatte Tante nicht sagen wollen, was ihr im Augenblick so entsetzlich durch den Sinn flog. Ja, was denn auch? – Sie lachte plötzlich, aber es war ein fast verächtliches Lachen, es klang ihr selbst fremd. Sie stand dann vor dem Spiegel und schaute ihr blasses Gesicht an. Gewiß, es war lächerlich, nur die aufgeregte Phantasie konnte ihr solche Thorheit eingeben. Nein, Tante hatte ihr gar nichts sagen wollen, es war eine ihrer gewöhnlichen Redensarten gewesen – natürlich!

„Tante Lott!“ rief sie dann leise. Es war, als fürchte sie sich vor ihren eigenen Gedanken, und sie trat in das peinlich saubere Schlafzimmer der alten Dame.

„Was denn, mein Goldkind?“ klang es verschlafen.

„Mir ist so bang, Tante!“

Und Tante Lott setzte sich, völlig munter, im Bette hoch. „Ich bin heute Abend so an Deine Mutter erinnert worden, Kind,“ begann sie; „so saßen wir immer; dort unten in Cousine Ratenow’s Salon, als Dein Vater sich um sie bewarb. Du siehst ihr so sprechend ähnlich, Else, und etwas hat doch der Bennewitzer auch von Deinem Vater, das Organ und die Handbewegung – über den Bart, weißt Du, und dann, er sah sie auch immer so still dabei an.“

Das Mädchen stand regungslos; eine unerklärliche Angst schnürte ihr fast die Kehle zu.

„Das sind nun beinahe zwanzig Jahre, und mir ist es wie heute, Else,“ fuhr die alte Dame fort in ihrer klagenden weinerlichen Redeweise, „nur daß die Ratenow viel stärker geworden ist und ich ganz weißes Haar bekommen habe; – wie doch manchmal die Vergangenheit lebendig wird! Das Lieschen, Deine Mutter, kam dann auch immer so an mein Bett, und einmal, das weiß ich ganz genau, da sagte sie auch: „Lottchen, Lottchen, mir ist so angst!“

„Tante, ich bitte Dich – ich fürchte mich!“ Die schlanke Mädchengestalt, die jetzt dicht neben dem Bette stand, schüttelte sich in nervösem Schauer.

„Dir ist nicht wohl, Else!“

„Nein; ich glaube, ich werde nächstens krank, Tante.“

„Armes Kind – das macht der Gram.“

„Ich gräme mich nicht, Tante!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_127.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2020)