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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Heinrich Heine’s Memoiren über seine Jugendzeit.

Herausgegeben von Eduard Engel.
Jeder Nachdruck verboten. Uebersetzungsrecht vorbehalten. 

II.

Meine Mutter ist jetzt eine Matrone von 87 Jahren[1] und ihr Geist hat durch das Alter nicht gelitten. Ueber meine wirkliche Denkart hat sie sich nie eine Herrschaft angemaßt und war für mich immer die Schonung und Liebe selbst.

Ihr Glauben war ein strenger Deismus, der ihrer vorwaltenden Vernunftrichtung ganz angemessen. Sie war eine Schülerinn Rousseaus, hatte dessen „Emile“ gelesen, säugte selbst ihre Kinder,[2] und Erziehungswesen war ihr Steckenpferd. Sie selbst hatte eine gelehrte Erziehung genossen und war die Studiengefährtin eines Bruders gewesen, der ein ausgezeichneter Arzt ward, aber früh starb. Schon als ganz junges Mädchen mußte sie ihrem Vater die lateinischen Dissertazionen und sonstige gelehrte Schriften vorlesen, wobei sie oft den Alten durch ihre Fragen in Erstaunen setzte.

Ihre Vernunft und ihre Empfindung war die Gesundheit selbst, und nicht von ihr erbte ich den Sinn für das Phantastische und Romantik. Sie hatte, wie ich schon erwähnt, eine Angst vor Poesie, entriß mir jeden Roman, den sie in meinen Händen fand, erlaubte mir keinen Besuch des Schauspiels, versagte mir alle Theilnahme an Volksspielen, überwachte meinen Umgang, schalt die Mägde, welche in meiner Gegenwart Gespenstergeschichten erzählten, kurz, sie that alles Mögliche, um Aberglauben und Poesie von mir zu entfernen.

Sie war sparsam, aber nur in Bezug auf ihre eigne Person; für das Vergnügen Andrer konnte sie verschwenderisch seyn, und da sie das Geld nicht liebte sondern nur schätzte, schenkte sie mit leichter Hand und setzte mich oft durch ihre Wohlthätigkeit und Freigebigkeit in Erstaunen.

Welche Aufopferung bewies sie dem Sohne, dem sie in schwieriger Zeit nicht bloß das Programm seiner Studien, sondern auch die Mittel dazu lieferte! Als ich die Universität bezog, waren die Geschäfte meines Vaters in sehr traurigem Zustand, und meine Mutter verkaufte ihren Schmuck, Halsband und Ohrringe von großem Werthe, um mir das Auskommen für die ersten Universitätsjahre zu sichern.

Ich war übrigens nicht der erste in unserer Familie, der auf der Universität Edelsteine aufgegessen und Perlen verschluckt hatte. Der Vater meiner Mutter, wie diese mir einst erzählte, erprobte dasselbe Kunststück. Die Juwelen, welche das Gebetbuch seiner verstorbenen Mutter verzierten, mußten die Kosten seines Aufenthalts auf der Universität bestreiten, als sein Vater, der alte Lazarus de Geldern[3], durch einen Successionsprozeß mit einer verheiratheten Schwester in große Armuth gerathen war, er, der von seinem Vater ein Vermögen geerbt hatte, von dessen Größe mir eine alte Großmuhme so viel Wunderdinge erzählte.

Das klang dem Knaben immer wie Märchen von Tausend und einer Nacht, wenn die Alte von den großen Palästen und den persischen Tapeten und dem massiven Gold- und Silbergeschirr erzählte, die der gute Mann, der am Hofe des Kurfürsten und der Kurfürstin[4] so viel Ehren genoß, so kläglich einbüßte. Sein Haus in der Stadt war das große Hotel in der Rheinstraße; das jetzige Krankenhaus in der Neustadt gehörte ihm ebenfalls, sowie ein Schloß bei Gravenberg, und am Ende hatte er kaum, wo er sein Haupt hinlegen konnte.

Eine Geschichte, die ein Seitenstück zu der obigen bildet, will ich hier einweben, da sie die verunglimpfte Mutter eines meiner Kollegen in der öffentlichen Meinung rehabilitiren dürfte. Ich las nemlich einmal in der Biographie des armen Dietrich Grabbe, daß das Laster des Trunks, woran derselbe zu Grunde gegangen, ihm durch seine eigne Mutter frühe eingepflanzt worden sei, indem sie dem Knaben, ja dem Kinde Branntewein zu trinken gegeben habe. Diese Anklage, die der Herausgeber der Biographie aus dem Munde feindseliger Verwandter erfahren, scheint grundfalsch, wenn ich mich der Worte erinnere, womit der selige Grabbe mehrmals von seiner Mutter sprach, die ihn oft gegen „dat Suppen“ mit den nachdrücklichsten Worten verwarnte.

Sie war eine rohe Dame, die Frau eines Gefängnißwärters, und wenn sie ihren jungen Wolf-Dietrich karessirte, mag sie ihn wohl manchmal mit den Tatzen einer Wölfinn auch ein bischen gekratzt haben. Aber sie hatte doch ein ächtes Mutterherz und bewährte solches, als ihr Sohn nach Berlin reiste, um dort zu studiren.

Beim Abschied, erzählte mir Grabbe, drückte sie ihm ein Paquet in die Hand, worin, weich umwickelt mit Baumwolle, sich ein halb Dutzend silberne Löffel nebst sechs dito kleinen Kaffelöffeln und ein großer dito Potagelöffel befand, ein stolzer Hausschatz, dessen die Frauen aus dem Volke sich nie ohne Herzbluten entäußern, da sie gleichsam eine silberne Dekorazion sind, wodurch sie sich von dem gewöhnlichen zinnernen Pöbel zu unterscheiden glauben. Als ich Grabbe kennen lernte, hatte er bereits den Potagelöffel, den Goliath, wie er ihn nannte, aufgezehrt. Befragte ich ihn manchmal, wie es ihm gehe, antwortete er lakonisch: ich bin an meinem dritten Löffel, oder, ich bin an meinem vierten Löffel. Die Großen gehen dahin, seufzte er einst, und es wird sehr schmale Bissen geben, wenn die Kleinen, die Kaffelöffelchen an die Reihe kommen, und wenn diese dahin sind, gibts gar keine Bissen mehr.

Leider hatte er Recht und je weniger er zu essen hatte, desto mehr legte er sich aufs Trinken und ward ein Trunkenbold. Anfangs Elend und später häuslicher Gram trieben den Unglücklichen, im Rausche Erheiterung oder Vergessenheit zu suchen, und zuletzt mochte er wohl zur Flasche gegriffen haben, wie andere zur Pistole, um dem Jammerthum ein Ende zu machen. Glauben Sie mir, sagte mir einst ein naiver westphälischer Landsmann Grabbes, der konnte viel vertragen und wäre nicht gestorben weil er trank, sondern er trank weil er sterben wollte; er starb durch Selbsttrunk.

Obige Ehrenrettung einer Mutter ist gewiß nie am unrechten Platz; ich versäumte bis jetzt, sie zur Sprache zu bringen,

  1. Dies muß unter allen Umständen auf einem Schreibfehler oder auf einem Irrthum über das wirkliche Alter seiner Mutter beruhen, denn Heine’s Mutter, Betty Heine, ist geboren am 27. November 1771; sie war also erst im Jahre 1858 87 Jahre alt, während Heine schon 1856 gestorben. Die lange Trennung vom mütterlichen Hause – er war zuletzt im Jahre 1844 in Hamburg gewesen – erklärt seine Unkenntniß des richtigen Alters seiner Mutter. Gestorben ist diese 1859, nach dem Tode ihres großen Sohnes.
  2. Rousseau hatte in seinem „Emile“ (oder „Ueber die Erziehung“) das Säugen der Kinder durch die Mütter auf’s Dringendste empfohlen, und seinem Einflusse ist es zuzuschreiben, daß diese Erfüllung einer selbstverständlichen Mutterpflicht auch in den höheren Ständen zur Gewohnheit wurde.
  3. In diesen Aufzeichnungen giebt Heine insofern der Wahrheit die Ehre, als er seinen mütterlichen Ahnen kein „von“, sondern nur ein deutbares und dehnbares „de“ verleiht; dagegen hat er in der Ueberschrift eines schönen Gedichtes an seine Mutter diese „geborene von Geldern“ genannt.
  4. Kurfürst Karl Theodor von der Pfalz, der Begründer der Malerakademie in Düsseldorf.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 133. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_133.jpg&oldid=- (Version vom 4.3.2024)