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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

nachher schon in der Fruh und schau nach Dei’m Kranken da – wie’s d’Nacht überdauert hat – hoffentlich gut.“

„Ja, hoffentlich gut.“

„Und – und – ja – somit gut’ Nacht!“

„Gut’ Nacht!“ sagte Nannei und legte ihre Rechte in die dargebotene Hand des Jägers.

Winselnd bohrte der Teckel seine Schnauze zwischen die angelehnte Thür und den Pfosten, und als diese dem Drucke nachgab und leise knarrend sich öffnete, sprang er mit lautem Bellen über die Schwelle.

„Schau – der macht mir gar die Thür auf!“ sagte Festei und versuchte zu lächeln. „Somit b’hüt Dich Gott – und gelt – schlaf’ recht gut!“

Noch einmal schüttelte er die Hand des Mädchens und verließ dann raschen Ganges die Hütte.

Nannei folgte dem Jäger bis auf die Schwelle – nachschauen konnte sie ihm nicht, die Nacht war zu dunkel – aber sie lauschte seinen Schritten, die nun verklangen, da Festei eine Mulde durchschreiten mußte – nun wurden sie wieder hörbar, und mit hallender Stimme rief das Mädchen durch die Finsterniß:

„Gut’ Nacht, Festei! Gut’ Nacht!“

Und von der Höhe rief es entgegen: „Gut Nacht! Und – wann – und – gut’ Nacht!“

Noch eine Weile waren die Schritte da oben zu hören, dann polterte am Jägerhäuschen die Thür – und Alles war still.




6.

Tage und Tage vergingen.

An jedem Morgen, ehe Festei seinen Rundgang in den Bergen antrat, kam er in Nannei’s Hütte, um zu erkunden, wie das Dschapei die Nacht verbracht hätte; und an jeglichem Abende, wenn er heimkehrte von seinen mühsamen Wegen, kam er, um nachzusehen, wieweit die Besserung tagsüber vorgeschritten wäre.

Und in all diesen Stunden vom Erwachen bis zum Scheiden der Sonne empfand das Mädchen immer und immer wieder jene „g’spassige Angst“, welche jählings verschwand, wenn Festei den Fuß auf die Schwelle setzte. Zu ihrem eigenen Verwundern verblieb ihr auch dieses seltsame Gefühl, als das Dschapei nach Tagen und Tagen schon so weit in der Besserung war, daß Nannei um den Zustand ihres Lieblings auch ganz gewiß keine Angst mehr zu haben brauchte.

Wie am Abende nach Dschapei’s Rettung, so hatte die junge Sennerin auch am nächsten Abende ihren Imbiß mit dem Jäger getheilt. Für die Folge aber hatte Festei das nicht mehr zugegeben.

„Weißt, Nannei,“ hatte er gesagt. „Das geht halt doch net, daß ich Abend für Abend von Dei’m Mehl iß. Und Dein Almbauer, der machet a schön’s G’sicht, wann er erfahret, daß ich mitzehr’ an sei’m Butter und Schmalz. Aber weißt – wann Dir’s schon recht is, daß ich so am Abend da bin und a bißl plausch’ mit Dir – und wann schon so gut sein willst und diemal kochen für mich –“

„Diemal g’rad? Ah na – jeden Abend – so oft Du magst!“ hatte ihn Nannei mit raschem Worte unterbrochen.

„No also – schau –“ hatte Festei mit freudigem Lächeln erwidert, „schau – da stell’ ich Dir mein Mehlsackl ’runter und mein Salz und d’ Schachtel mit mei’m Schmalz – und da kochst nachher davon – und ich kann mit gutem G’wissen bei Dir essen.“

So war es auch geschehen – und wenn dann immer Nannei des Abends am Herd stand und zum Schmarren oder zu den Nocken den Teig anrührte, gab Festei sorglich Acht, daß sie auch wirklich ganz zu gleichen Theilen von seinem wie von ihrem Vorrath nahm und nicht etwa sich selbst zu Schaden brächte.

War die Pfanne geleert, so saßen sie plauderud Seite an Seite, oder wenn Nannei noch zu schaffen hatte, schaute ihr Festei zu, sein Pfeifchen rauchend, meist schweigend – den Beiden war’s ja schon genug, wenn Eines das Andere in seiner Nähe wußte – und mehr als ihre Lippen sprachen in solchen Stunden ihre Augen, die dann auch bei weitem mehr zu sagen wagten, als der Mund zu sprechen sich getraute.

Eines Tages – es war der fünfundzwanzigste Juli – hörte Nannei lange vor der Zeit der Dämmerung ihrer Hütte Festei’s wohlbekannten Schritt entgegeneilen – und als sie hurtig auf die Schwelle spraug, da stand der Jäger schon vor ihr, mit hochgerötheten Wangen, mit zitternden Lippen, mit naß in die Stirn hängenden Haaren und mit Augen, die vor Erregung blitzten.

(Fortsetzung folgt.)




Die Freisprechungen im russischen Schwurgerichte.


Vor nun bald zwanzig Jahren, bei der Einführung des öffentlichen und mündlichen Gerichtsverfahrens in Rußland, gehörte ich zu den Geschwornen der ersten Assisen in St. Petersburg. Abgesehen von verschiedenen, theilweise lächerlichen Zwischenfällen, die während der Dauer dieser ersten öffentlichen Gerichtssitzungen vorfielen und die durch die Neuheit der Sache entschuldigt werden konnten, machte folgende Episode einen peinlichen Eindruck auf mich. Ein Angeklagter, beschuldigt die Decke eines Schlittens gestohlen zu haben, wurde, trotz der glänzenden Vertheidigungsrede eines der berühmtesten Advocaten der Residenz, schuldig erklärt und zu einer Gefängnißhaft von einigen Monaten verurtheilt. Als ich mit anderen Geschwornen, während einer Pause, in der Gallerie des Justizpalastes auf- und abging, trat ein mir nur sehr oberflächlich bekannter Berichterstatter einer Zeitung mit den Worten auf mich zu:

„Gehörten Sie nicht auch zu den Geschwornen, die soeben den armen X. schuldig sprachen?“

Als ich dies bejahte, fuhr er fort:

„Wie konnten Sie nur diesen Menschen verurtheilen? Es war ja eine physische Unmöglichkeit, daß er den Diebstahl verübte; er ist so schwach auf den Beinen, daß er gar nicht im Stande gewesen wäre, bis dorthin, wo man ihn festnahm, zu laufen!“

Ich erwiderte, daß von einem solchen Schwächezustande des Angeklagten der Vertheidiger doch wohl Kenntniß gehabt haben müsse; da er aber davon nichts erwähnt habe, so konnten die Geschwornen diese angebliche Thatsache auch nicht in Betracht ziehen.

„Euch selbst müßte man aufhängen!“ war die Antwort des Journalisten, mit der er mir den Rücken wandte.

Nur durch die Annahme, daß ein großer Theil des russischen Publicums die Pflichten des Geschwornen in der ausnahmslosen Freisprechung der Angeklagten, ob unschuldig oder schuldig, sieht, läßt sich dies Vorkommniß und hundert ähnliche in der Praxis des russischen Geschwornengerichts erklären. Wer längere Zeit in Rußland gelebt und sich mit den Anschauungen und Empfindungen des Volkes vertraut gemacht hat, weiß, daß der Russe, namentlich wenn er von der europäischen Cultur noch unbeleckt ist, eine fast unerschöpfliche Dosis von Gutmüthigkeit und Barmherzigkeit besitzt. Insbesondere aber sind es die Gefangenen, denen er seine volle Theilnahme schenkt. Diese Gemüthsanlage findet sich aber auch nicht selten bei den höheren, gebildeten Classen, und sie kann, wenn auch die Attentate und Morde der Terroristen das Gegentheil zu beweisen scheinen, als ein nationaler Charakterzug gelten.

Auch die Friedensrichter hielten es, besonders in der ersten Zeit nach Inkrafttretung der neuen Gerichtsverfassung , fast ausnahmslos für ihre Pflicht, die Angeklagten, namentlich wenn sie zur niedern Volksclasse gehören und von Höherstehenden, ihren Vorgesetzten, ihrer Dienstherrschaft etc. verklagt wurden, freizusprechen. Eine Bestätigung für diese Eigenthümlichkeit des russischen Volkscharakters finden wir auch bei dem berühmten russischen Romanschriftsteller Dostojewsky, diesem classischen Kenner der russischen Volksseele, welcher in seinen „Memoiren aus dem todten Hause“ die Verbrecher, seine Genossen im sibirischen Zuchthause, mit unendlicher christlicher Liebe und Nachsicht schildert und den Leser unwillkürlich zwingt, diese „Unglücklichen“ zu bemitleiden, anstatt sie zu verabscheuen. In der ganzen literarischen Thatigkeit Dostojewsky’s finden wir dieses Mitgefühl für die „Armen Leute“, „Erniedrigten und Beleidigten“[1], für die Schwachen, Unterdrückten, Elenden, insbesondre aber für die unglücklichen Kinder. Er theilt vollständig die Gefühle seiner einfachen, ungebildeten Landsleute, die den Gefangenen ausnahmslos einen „Unglücklichen“ nennen und die es nie versäumen, ihm einige Kopeken in die Hand zu drücken, wenn sie ihm begegnen.

Abgesehen von der angebornen Weichherzigkeit des russischen Charakters, ist dieses Mitleid mit den „Unglücklichen“ auch noch durch die Brutalität

zu erklären, unter der das Volk Jahrhunderte lang in der Leibeigenschaft schmachtete. Der stete Anblick von Willkür, Despotismus und Ungerechtigkeit, verbunden mit der Indolenz, die es solche Zustände ertragen ließ, mußten das Volk wohl schließlich dazu bringen, Jeden, der in die Hände der strafenden Obrigkeit gefallen war, als einen unschuldig Leidenden, einen Unglücklichen, anzusehen. Auch die Verfolgungen, denen noch bis vor Kurzem die Sectirer ausgesetzt waren, Leute, die lhres Glaubens, ihrer religiösen Ueberzeugungen wegen litten, die nichts verbrochen, sondern die in sittlicher Beziehung meist unendlich höher standen als ihre Quälgeister,

  1. Titel von Romanen Dostojewsky’s.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 136. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_136.jpg&oldid=- (Version vom 1.11.2022)