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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

machen es erklärlich, daß jeder Angeklagte, jeder Gefangene, als ein leidender Bruder betrachtet wird, dessen Loos heute oder morgen einen Andern treffen kann. Es läßt sich folglich die Auffassung, daß jeder Gefangene, Angeklagte, Verbrecher ein Unglücklicher sei, der Mitleid, Nachsicht, Verzeihung verdiene, auch historisch erklären, fast rechtfertigen.

Dies vorausgeschickt, werden wir die Erscheinungen, welche auch in den letzten Wochen den unbefangenen Leser wieder in Erstaunen versetzten, leichter begreifen.

Die Freisprechungen in den russischen Geschwornengerichten haben seit Jahren schon die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. So lange es sich um politische Verbrecher handelte, war man geneigt, derartige Vorkommnisse durch die Annahme zu erklären, die russische Gesellschaft sympathisire mit den Revolutionären. Namentlich war es der Proceß gegen Wära Sassulitsch, welcher seiner Zeit so großes Aufsehen machte. Der Vertheidiger der Angeklagten war zum Ankläger des Opfers der Verbrecherin geworden, und die Freisprechung der Attentäterin fand nicht nur bei dem im Gerichte anwesenden Publicum, sondern auch in der ganzen russischen Presse fast einmüthigen Beifall.

Wenn bei solchen Freisprechungen unstreitig auch die Opposition gegen das herrschende System eine hervorragende Rolle spielt, so kann dieses Motiv doch bei Freisprechungen von Dieben und Cassendefraudanten nicht füglich geltend gemacht werden.

In diesen Fällen wird das angeborne und anerzogene Mitgefühl für die „Unglücklichen“ meist noch dadurch beeinflußt, daß Verbrechen und Strafe häufig nicht in demjenigen Verhältniß zu einander stehen, welches den Anschauungen der Geschwornen entsprechen würde. Der russische Geschworne wird nie den Grundsatz fiat justitia, pereat mundus (um der Gerechtigkeit willen möge die Welt zu Grunde gehen) zu seiner Devise nehmen, er zieht es sogar vor, den geständigen Verbrecher frei zu sprechen, als ihn einer Strafe zu unterwerfen, die ihm zu hart dünkt. Der lebende Mensch steht ihm immer höher als das todte Gesetz.

Es ist ferner eine bekannte Thatsache, daß man gegen Ereignisse, die häufig vorkommen, möge jedes einzelne an und für sich noch so sensationell sein, schließlich abgestumpft wird. Die von jeher in Rußland vorkommenden Diebstähle an öffentlichen Cassen (man hat dafür sogar ein eigenes Wort – Kasnokrádstwo – erfunden) gehören ja bekanntlich zu den „berechtigten Eigenthümlichkeiten“ dieses Landes.

Unterschlagungen von Hunderttausenden und Millionen erregen kaum noch ein außergewöhnliches Aufsehen, man ist daran gewöhnt. Oeffentliche, sogenannte Krongelder sind von jeher und werden auch jetzt noch von Vielen als herrenloses Gut angesehen, und diejenigen, welche in gewissen Stellungen Gelegenheit haben, sich zu bereichern und es nicht thun, betrachtet man als unpraktische, ungeschickte Menschen.

Bei dieser allgemeinen Corruption kann sich ein ehrlicher Mann unter lauter Spitzbuben nicht lange behaupten; er ist ein fortwährender Stein des Anstoßes und wird daher in der Regel möglichst schnell beseitigt. Wie sehr die Anschauung, daß es selbstverständlich sei, sich an öffentlichen oder anvertrauten Geldern zu bereichern, in Fleisch und Blut der russischen Gesellschaft übergegangen ist, beweist unter Anderem auch die Thatsache, daß noch Kaiser Nikolaus seinen Günstlingen Regimenter verlieh, um ihnen Gelegenheit zu geben, ihre Finanzen zu verbessern.

Ein russischer Obrist kannte damals keine größere Strafe, als die Beförderung zum Generalmajor – er war dann gezwungen, sich mit seinem Gehalte zu begnügen, die großen Einkünfte aus der Regimentscasse hörten auf.

Mußten nicht solche Zustände mit absoluter Nothwendigkeit dahin führen, die Begriffe von Recht und Unrecht zu verwirren, und mußte sich nicht der Mann aus dem Volke, der als Geschworener über Verbrechen urtheilen sollte, schließlich sagen: „Weshalb soll gerade dieser verurtheilt werden? Er that nur, was Alle an seiner Stelle gethan haben, was wir vorkommendenfalls selbst thun würden.“

Zur Illustrirung des Obengesagten führen wir jetzt noch einige der eclatantesten Fälle an, die uns zu diesen Betrachtungen Veranlassung gegeben haben; wir entnehmen dieselben ausschließlich der jüngsten Vergangenheit; – wollten wir weiter zurückgreifen, so fänden wir kein Ende.

Die Kronstädter Bank mußte ihre Zahlungen einstellen, weil sie sich in Speculationen eingelassen hatte, die außerhalb ihres Wirkungskreises lagen. Die Leiter der Bank, welche an diesen Ungesetzlichkeiten betheiligt waren, wurden theils verurtheilt, theils freigesprochen. Es stellte sich unter Anderem heraus, daß diese Bank für viele Hunderttausende von Rubeln fictive Depositenscheine über angeblich in die Bank eingezahlte Summen ausgestellt hatte. Diese Quittungen wurden wie baares Geld in Umlauf gesetzt und konnten schließlich nicht mehr eingelöst werden – der Krach war unvermeidlich.

Ein Fürst Obolensky, dessen Speculationen hauptsächlich den Ruin der Bank herbeigeführt hatten und der den größten Gebrauch von diesen Depositenscheinen, wissend, daß sie falsch sind, gemacht hatte, wurde freigesprochen. Das Urtheil ist übrigens vom Senate cassirt worden, und diese Angelegenheit kommt noch einmal vor das Kreisgericht.

In Moskau holte der Rentmeister einer Wohlthätigkeitsbehörde, Melnitzky, im vorigen Jahre die Summe von 307,000 Rubeln aus der Bank. Er behauptete, auf dem Rückwege unwohl geworden zu sein und das Bewußtsein verloren zu haben. Nachdem er wieder zu sich gekommen, sei das Geld verschwunden gewesen. Trotzdem er bei diesen Angaben blieb, wurde er doch zur Deportation nach Sibirien verurtheilt – das Geld aber war verschwunden.

Endlich nach Monaten kam es heraus, daß die angeblich verloren gegangene Summe sich in den Händen der Kinder und sonstigen Verwandten des Verurtheilten befände, und der größte Theil derselben (81,512 Rubel fehlten) konnte bei ihnen beschlagnahmt werden. Diese Verwandten nun wurden als Theilnehmer und Hehler des Diebstahls angeklagt. Ihre Schuld war klar bewiesen und konnte auch nicht geleugnet werden. Trotzdem aber erfolgte ihre Freisprechung unter langandauerndem Beifalle des bei der Gerichtsverhandlung anwesenden Publicums. Die Geschwornen hatten unter Anderem angenommen, daß der mitangeklagte Sohn Melnitzky’s, ein Hauptbetheiligter an dem Verbrechen des Vaters, „ohne eigennützigen Zweck“ gehandelt habe.

Der Cassirer der Kijewschen Communalbank Swiridow bestahl während eines Zeitraums von zehn Jahren die ihm anvertraute Casse um 264,000 Rubel und gestand sein Verbrechen ein. Trotzdem wurde er freigesprochen. Die Fragen, welche bei dieser Gelegenheit den Geschwornen vorgelegt worden waren, lauteten:

1) Ist es erwiesen, daß Swiridow aus den ihm anvertrauten Geldern sich eine Summe von mehr als 300 Rubeln angeeignet und zu seinem eigenen Nutzen verwandte? Antwort: Ja!

2) Ist Swiridow schuldig, genanntes Verbrechen begangen zu haben? Antwort: Nein!

Der Beifall des Publicums bei der Freisprechung war endlos. Für jeden Unbefangenen ist die Stellung der zweiten Frage unverständlich – als ob nicht bereits in der Beantwortung der ersten die Schuld des Angeklagten bejaht gewesen wäre! Interessant sind in diesem Falle noch die vom Vertheidiger vorgebrachten Entschuldigungsgründe: 1) Die Aufsicht war ungenügend, folglich sei es entschuldbar, wenn Swiridow das Geld nahm, 2) Bestechlichkeit, Trinken und Cassenbestehlen liege gleichsam in der russischen Natur („wird im russischen Ofen gebacken“), der ein Mensch nur schwer widerstehen könne.

Der Berichterstatter fügt hinzu: Erklärbar ist ein solches Urtheil nur durch die monatelang zu Gunsten des Angeklagten betriebene Beeinflussung eines großen Theils des Publicums durch die mit dem gestohlenen Gelde ermöglichten vielfachen Schenkungen an Kirchen und Klöster und vor Allem durch die Feindschaft der Parteien, von denen die eine durch die Freisprechung Swiridow’s der Verwaltung der Bank und der eng mit ihr verbundenen Stadtverwaltung schaden wollte. Das Gericht verfügte übrigens, daß von Swiridow das defraudirte Geld eingetrieben werden solle.

Die Geschworenen in Kijew haben sich vor Kurzem noch durch die Freisprechung des Procuristen im Hause Walkow, der vermittelst Fälschung der Handlungsbücher 25,000 Rubel gestohlen und durchgebracht hatte, ausgezeichnet.

In Kasan fälschte der Kellner eines Hôtels die Rechnung eines Gastes um 12 Rubel und cassirte den Betrag ein. Der Schuldige wurde vom Einzelrichter zu anderthalb Monat Gefängniß verurtheilt. Er appellirte an das Friedensrichterplenum, welches ihn freisprach, weil angeblich nicht erwiesen sei und auch nicht erwiesen werden könne, daß der Angeklagte das Geld zu seinem eigenen Vortheile zu verwenden gedachte.

In Odessa wurde ein Defraudationsproceß aus dem Jahre 1874 gegen den früheren Cassirer des geistlichen Consistoriums, Lewitzky – der Cassendefect betrug 3000 Rubel – durch Freisprechung des Angeklagten beendet. Das geistliche Consistorium wurde außer in die Kosten auch noch verurtheilt, dem seit neun Jahren entlassenen Lewitzky die Hälfte des ihm während dieser Zeit vorenthaltenen Gehalts als Entschädigung auszuzahlen.

Am Bezirksgerichte von Wjatka gelangte unter Zuziehung von Geschwornen der Proceß wider den Major Palizyn, welcher der Bigamie und Fälschung angeklagt war, zur Verhandlung. Die Geschwornen sprachen den Angeklagten frei. Dieses Verdict kam so unerwartet, daß der Major Palizyn bei Verkündung desselben die Besinnung verlor.

Es ist eine bekannte Thatsache, daß in früheren Zeiten bei den verschiedenen Völkern die Begriffe von Gut und Schlecht, von Recht und Unrecht verschiedenartige waren. Erst nach und nach klärten sich die Ansichten darüber, und heute finden wir bei allen civilisirten Völkern so ziemlich die gleiche, jetzt allgemein gültige Deutung dieser Begriffe. Wenn wir daher bei einem Volke Anschauungen wie die oben geschilderten treffen, so kommen wir nothgedrungen zu dem Schlusse, daß dort die Civilisation noch auf einer niedrigeren Stufe stehen müsse. Wir können uns ebenso wenig vorstellen, daß schwarz – weiß sei, als daß ein Dieb, ein Cassendefraudant unschuldig sei – mildernde Umstände selbstverständlich vorbehalten.

Mildernde Umstände wollen wir auch bei Beurtheilung der abnormen Zustände in Rußland gelten lassen. Ein Volk, welches erst weit später als wir in die Reihe der civilisirten Nationen eingetreten ist, waches Jahrhunderte lang das Tatarenjoch, die Despotie seiner Herrscher, die Leibeigenschaft ertrug, darf nicht mit dem gleichen Maß gemessen werden, wie andere Völler, welche unter günstigeren Bedingungen herangereift sind. Es ist ein schwerer Irrthum, wenn man Rußland nach Petersburg, Moskau, nach seiner auf der Höhe der Cultur stehenden Minderheit beurtheilt. Die große Masse des Volkes, namentlich diejenige, welche nicht in den großen Centren und an vielfrequentrirten Straßen wohnt, hat noch die gleichen Begriffe, steht noch auf der gleichen geistigen und physischen Stufe, wie vor funfhundert Jahren. Dies erklärt Vieles, was uns sonst unbegreiflich wäre. Es unterliegt keinem Zweifel, daß bereits viel gethan ist, um das geistige und materielle Niveau des Volkes zu heben. Namentlich hat Kaiser Alexander II. sich ein unsterbliches Verdienst durch seine reformatorische Thätigkeit erworben. Wir wünschen nur, daß in seinem Geiste fortgearbeitet werden möchte, unbekümmert um Reactionäre und Revolutionäre, die jetzt das arme Land weder zur Ruhe noch zur normalen Entwickelung kommen lassen. Nur stete unverdrossene Arbeit und ein erreichbares Ziel vor Augen, das ist’s, was Rußland Noth thut. Dann werden sich mit der Zeit auch seine heute noch verworrenen Begriffe von Recht und Unrecht klären.

Wilhelm Henckel.     


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