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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

No. 9.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Ein armes Mädchen.
Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Frieda hatte Besuch von ihrer Schwester Lili, einer kleinen brünetten Dame, nicht so hübsch wie die junge Frau; aber sie konnte so herzhaft lachen, und sie verstand es noch besser als Frieda, das ganze Haus auf den Kopf zu stellen.

Frau von Ratenow behauptete, sie sei ein neumodischer Flederwisch, und es sei gut, daß sie sich mit Annie Cramm angefreundet hätte, es wäre ein ganz passendes Gespann. Aber trotz der vielen Zerstreuungen, welche die Damen vorhatten, Fräulein Lili fand sich immer zur Theestunde bei der „lieben, reizenden“ Frau von Ratenow ein; sie hatte so gern alte Damen und Herren, zu gern, und sie würde sich nie in so einen Jungen verlieben können. Die Männer so um die Fünfzig herum, die seien ihr die liebsten, und wie interessant für eine junge Frau, einen alten Mann zu haben! Es war sehr drollig, wenn sie so etwas vortrug; auch Frau von Ratenow hatte wider Willen lachen müssen:

„Er muß aber viel Geld haben, Lili, wie?“

„Natürlich, liebstes, bestes Tantchen; entweder viel Geld, oder er muß mindestens Excellenz sein, commandirender General oder dem Aehnliches.“

Und der Bennewitzer kam so unendlich oft jetzt, und Tante Ratenow war entzückter als je von ihm. „Else, er ist ein hochanständiger Charakter!“ – Und Frieda hatte stets ein süßes Lächeln für ihn und Lili schlug die Augen mit den langen Wimpern noch einmal so langsam und schwer auf, wenn sie mit ihm sprach. Es war ein förmliches Wettrennen, wenn sein mit Rappen bespannter eleganter Wagen in den Hof rollte. Tante Ratenow ging ihm würdevoll bis auf den Flur entgegen, und Frieda stand schon mit Lili auf der Treppe, und Herr von Hegebach kam allen Ernstes in Verlegenheit, weil er nicht wußte, ob er in das lauschige Boudoir der jungen Frau oder in Tante Ratenow’s ehrwürdiges Zimmer treten sollte; jedenfalls aber zog er die Gesellschaft ganz vollzählig nach, er mochte seine Schritte nach links oder rechts lenken.

Und Else stand scheinbar außerhalb dieses Kreises, und dennoch wußte sie unleugbar, daß sie immer mehr und mehr in den Mittelpunkt gedrängt wurde. Immer und immer wieder suchte sie jede Handbreit des mit Gewalt ihr abgezwungenen Terrains wieder zu gewinnen; unbewußt hingen ihre Augen wie um Erbarmen flehend an dem energischen Antlitze der Tante; immer und immer zog sich ihr junges Herz wie das eines erschreckten Kindes vor dem Blicke zweier dunkler Männeraugen zurück, und immer weiter verlor sie einen Fußbreit ihres sicheren Bodens nach dem andern.

Heute früh hatte ein herrliches Bouquet auf ihrem Geburtstagstische gestanden in Tante Ratenow’s Stube, und die große Visitenkarte daran nannte den Geber; auch ein Brief von Tante Lott, der guten alten Tante Lott, war da. Moritz hatte ihr die Hand gedrückt und eine hübsche Briefmappe aus rothem Juchten gebracht, und dann hatten die Kinder jubelnd an ihr gehangen. Lili und Frieda waren auch erschienen, Letztere mit allerhand Schleifen und sonstigem „Takelzeuge“, wie Tante Ratenow es nannte, und ein blaßblaues Schleifchen hatte die alte Dame ihr wieder zurückgegeben mit der Bemerkung, die sei wohl nur aus Versehen darunter gekommen und stamme jedenfalls aus Frieda’s Toilettentisch, wie die Nadel beweise, die noch daran stecke.

Ach, und Else war so müde; es war ihr ganz egal, ob Frieda ihre alten Sachen mit einschmuggeln wollte; sie war ja doch ein armes Mädchen, und warum sollte sie da nicht abgelegte Schleifen tragen? Sie hatte für diesen „süßen Unsinn des Lebens“, wie Moritz die kostbaren Tändeleien seiner schönen Frau zu nennen beliebte, kein Geld; es war ja am Ende nur natürlich; Frieda meinte es nicht böse. – Ach, wenn man weiter nichts von ihr verlangt hätte!

Tante Ratenow hatte ihr heute früh erzählt von ihrem Geburtstage und wie traurig das Alles gewesen, wie seit jener Zeit der Papa ein finsterer einsamer Mann geworden, und daß sie ihm gesagt: das Kind werde noch ein Segen werden für ihn, ein großer Segen.

„Und das liegt in Deiner Hand, Else!“ hatte sie hinzugefügt.

Das junge Mädchen auf dem stillen Gottesacker erhob sich plötzlich; es war wieder das eisige entsetzliche Gefühl über sie gekommen. Hastig schritt sie den Weg entlang; sie sah nicht, wie die Sonne so golden schien, wie ihre Strahlen in den Tröpfchen funkelten, die an den zarten Blättern der Sträucher zitterten – überall Frühling, überall junges Grün und lustiges Vogelgezwitscher, selbst der alte Thorthurm hatte sich ein schwankes lichtgrünes Zweiglein auf sein ehrwürdig Haupt gesteckt.

Sie hatte schier fieberglühende Wangen, als sie in das Zimmer des Vaters trat. Sie wollte sich an ihn wenden, er haßte ja den Bennewitzer, er würde ihr erlauben, unter seinen Schutz zu flüchten, wenn –. Der alte Herr hatte beide Fensterflügel geöffnet, die Zeitung lag vor ihm auf dem Tische, und neben der kalten Pfeife stand ein halbgeleertes Weinglas.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 141. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_141.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)