Seite:Die Gartenlaube (1884) 146.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Die „gute alte Zeit“.

Von Karl Biedermann.


I.


Der sehnsüchtige Ruf nach der „guten alten Zeit“, der gerade jetzt wieder häufiger vernommen wird, ist durchaus nichts Neues. Auch erklärt sich diese Erscheinung auf sehr natürliche Weise aus dem Gange des menschlichen Lebens selbst, wie er zu allen Zeiten war und zu allen Zeiten sein wird. Für viele, ja, man kann wohl sagen, für die meisten Menschen ist das tägliche Leben ein beinahe ununterbrochener „Kampf um’s Dasein“. Auch wer nicht eigentlich Noth leidet, ist doch von Sorgen und Mühen, von Anstrengungen und Entbehrungen selten ganz frei. Da ist es denn kein Wunder, wenn so Mancher sich aus dieser mühe- und sorgenvollen Gegenwart heraus gern in einen Zustand versetzt, den seine Phantasie ihm als einen von solchen Mühen und Sorgen, wenigstens vergleichsweise, freien vorspiegelt, sei es, daß er den Spuren Chamisso’s folgt, wenn dieser singt: „Ich träume als Kind mich zurücke“, oder daß er das thut, was Schiller in den Versen an deutet: „Es reden und träumen die Menschen viel von besseren künftigen Tagen.“ In beiden Fällen ist es weniger der Gegenstand des „Träumens“, als das „Träumen“ selbst, was dem Menschen ein glückliches Vergessen der Gegenwart bereitet, ungefähr so, wie der wirkliche Traum uns in eine andere Welt versetzt, als die, in der wir wachend uns befinden. Erscheint uns doch in unserm eigenen kleinen Leben das Vergangene meist in einer gewissen verklärenden Beleuchtung, entweder weil das hinter uns liegende Schwere nicht ebenso auf uns drückt, wie das gegenwärtige, oder weil die glückliche Ueberwindung von Leiden und Sorgen uns eine gewisse Befriedigung hinterläßt. Dieses Gefühl überträgt dann leicht der Einzelne von sich auf die ganze Gattung.

Diese psychologische Beobachtung stimmt uns duldsam gegen die Lobredner einer sogenannten „guten alten Zeit“, weil wir sehen, daß dieselben nur einer allgemeinen menschlichen Eigenthümlichkeit oder, wenn man will, Schwäche ihren Tribut zollen; aber sie gebietet uns zugleich Vorsicht in Bezug auf die Urtheile, welche aus einer solchen Stimmung heraus einestheils über die Vergangenheit, anderntheils über die Gegenwart gefällt werden. Schon der erwähnte Umstand, daß es zu allen Zeiten Schwärmer für eine frühere Zeit und Tadler der Gegenwart gegeben hat, muß uns gegen eine derartige rückwärts gewendete Lebensauffassung argwöhnisch machen, denn wir können vermuthen (und die Erfahrung bestätigt dies), daß, wenn den Jetztlebenden die Zeit ihrer Eltern und Großeltern als eine bessere erscheint, es diesen Letzteren ebenso gegangen sein wird.

Jedenfalls ist eine solche Schwärmerei viel weniger tadelnswerth, als jener leider heutzutage so verbreitete und fast zu einer Art von Modekrankheit gewordene Pessimismus, der nirgends, weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart noch in der Zukunft, etwas findet, was ihm das Herz erwärmen und die Seele füllen könnte.

Bedenklich wird die Anpreisung der „guten alten Zeit“ erst dann, wenn sie verbunden ist mit einer ungerechten Bemäkelung oder Verdammung der Gegenwart, und wenn sie sich versteigt zu der Forderung einer Wiederherstellung früherer Zustände oder einer Zurückschraubung der Gegenwart in eine abgethane, überlebte Vergangenheit.

Wir sind nicht so blind eingenommen für die Gegenwart, nicht so befangen in dem Gedanken, „wie wir’s so herrlich weit gebracht“, daß wir nicht gern bereit sein sollten, zu einer unparteiischen Vergleichung der heutigen Zustände mit früheren die Hand zu bieten. Zu dem Ende wollen wir eine möglichst unbefangene, auf Thatsachen gegründete Umschau halten über alle wichtigeren Gebiete unseres öffentlichen und unseres Culturlebens, um zu erkennen, ob wirklich das „Sonst“ so viel besser war als das „Jetzt“.

Wir beginnen mit dem umfassendsten dieser Gebiete, dem Reiche. Hier haben wir es leicht, denn wo in allen den verflossenen Jahrhunderten fände sich ein Zustand des deutschen Reiches, dem wir nicht den gegenwärtigen als einen nicht blos ebenbürtigen, sondern in den wichtigsten Beziehungen überlegenen mit Stolz und Zuversicht gegenüberstellen dürften? Mit wie glänzenden Namen auch unsere älteste deutsche Kaisergeschichte prangen, wie kraftvolle Persönlichkeiten sie aufweisen möge, einen Heinrich I. und Otto den Großen, einen Heinrich III. und Friedrich Barbarossa, dennoch war unter keinem selbst dieser unstreitig tüchtigsten der alten Beherrscher Deutschlands der Gesammtzustand des Reichs und der Nation auch nur annähernd ein so befriedigender, wie heutzutage unter unserem ehrwürdigen Kaiser Wilhelm I.

Was unserem heutigen Kaiserthume einen so unbestreitbaren Vorzug vor allen seinen Vorgängern sichert, das ist der breite und feste nationale und volksthümliche Unterbau, auf dem es ruht. Die ehemaligen deutschen Kaiser waren auf den guten Willen ihrer Vasallen angewiesen, von denen jeder naturgemäß nach möglichstem Machtbesitze für sich und nach möglichster Unabhängigkeit vom Reiche strebte – unser heutiges Kaiserthum hat die tiefsten Wurzeln seiner Kraft in der Zustimmung und Mitwirkung der ganzen Nation und ihrer gesetzlichen Vertretung im Reichstage. Nur sich selbst würde eine heutige Reichsregierung es zuzuschreiben haben, wenn dieses wirksamste Mittel einer kräftigen Einheitsgewalt ihr versagte. Unser heutiges Kaiserthum verzichtet auf den zweifelhaften Ruhm eines „Schirmvogtes der Kirche“, aber es braucht eben deshalb auch, sobald es nur will, streng in den Grenzen seiner weltlichen Befugnisse sich haltend, keine Eingriffe in diese seitens einer kirchlichen Macht zu dulden. Nach außen begehrt unser heutiges Kaiserthum nicht den gleißenden Schein einer angeblichen Oberherrlichkeit über fremde Länder oder der Einmischung in ihre Geschicke; zufrieden mit der ehrenvollen und angesehenen Rolle, welche die öffentliche Meinung von ganz Europa freiwillig ihm anweist, ist es selbstlos bemüht, den maßgebenden Einfluß, der dadurch ihm zufällt, im Interesse des Friedens, der Gerechtigkeit und der Wohlfahrt des eigenen, aber auch der andern Völker zu verwerthen.

Mag also immerhin auch in unserem jetzigen deutschen Reiche noch nicht Alles so sein, wie Mancher wünscht oder träumt, daß es sein sollte, so müßte doch Der ein schlechter Kenner der Geschichte sein, der unsere heutigen, im Innern wohlgeordneten, nach außen gesicherten, auf der freien Mitwirkung der Nation beruhenden öffentlichen Zustände vertauschen möchte mit irgend einer früheren Periode des deutschen Reichs, selbst in seiner besten Zeit, geschweige denn in jener Zeit des Verfalles, von dem Goethe seine Studenten in Auerbach’s Keller singen läßt: „Das liebe heil’ge röm’sche Reich, wie hält’s nur noch zusammen?“ oder mit dem deutschen Bunde trostlosen Angedenkens.

Die Vorstellung von einem „patriarchalischen“ Verhältnisse zwischen Fürst und Volk, womit man so gern eine frühere Zeit schmückt, hat jedenfalls etwas Anmuthendes. Allein auch hier geht es uns leicht wie in vielen andern Dingen: wir sehen in der magischen Beleuchtung einer zum Theil fernen Vergangenheit nur die Lichtseiten und nicht auch die Schatten. Unter den früheren deutschen Landesherren zählt gewiß mit Recht zu den besten, wohlmeinendsten, volksthümlichsten im 16. Jahrhunderte „Vater August“ von Sachsen, im 18. Karl August von Weimar. Und doch bestand unter „Vater August“ in Sachsen jenes grausame Gesetz, wonach ein Wildfrevel (selbst wenn er vielleicht nur aus Nothwehr von dem armen Landmanne begangen war, dessen

Fluren das übermäßig gehegte Wild verwüstete) beim ersten Male mit Staupenschlag, im Wiederholungsfalle mit harter Arbeit in den Bergwerken oder mit Galeerenstrafe gebüßt wurde! Und doch war auch der Freund Goethe’s, Karl August, so sehr von der „noblen Passion“ der Jagd eingenommen, daß selbst dieser sein von ihm hochgeschätzter Vertrauter und Minister Goethe noch nach fast zehnjährigem innigen Verkehre nur schüchtern seinen fürstlichen Freund daran zu erinnern wagte, wie schwer das Land unter dem hohen Wildstande leide! Es war eben damals in den herrschenden Kreisen eine allverbreitete und als selbstverständlich betrachtete Ansicht, daß Land und Volk nur um des Fürsten willen da sei, daß jede Beschränkung, die der Fürst seinen eigenen Launen und Leidenschaften auferlege, jede Wohlthat, die er seinen Unterthanen erweise, von diesen wie eine unverdiente Gnade mit gerührtem Danke hingenommen, das Gegentheil wie ein unabwendbares Geschick

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 146. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_146.jpg&oldid=- (Version vom 4.12.2022)