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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Sollte man nicht meinen, man hörte eine der vielen landläufigen Reden auf einem unserer gewerbfreiheitsfeindlichen Handwerkertage? Jedenfalls zeigt dieses Beispiel recht schlagend, wie ganz anders derartige Zustände in der Nähe aussehen, als aus der Ferne!

Verhielt es sich nun schon so zu jener Zeit, wo nachweislichermaßen das deutsche Handwerker- und Bürgerthum in vollster Kraft dastand, wo die Zusammenschließung der Gewerbe in Zünften noch weit mehr eine befreiende und anfeuernde, als eine beschränkende und lähmende Wirkung übte, wie vollends dann, als diese letztere Wirkung in den Vordergrund trat, als gegen den Verfall des Bürger- und Handwerkerthums man Rettung suchte in einer immer mehr verschärften Absperrung der Gewerbe gegen einander und Ausschließung jeder Mitbewerbung junger, rüstigerer Kräfte! Und welches waren die Wirkungen dieser Gebundenheit der Gewerbe? Darüber belehrt uns der treffliche Kenner vaterländischer Zustände, Justus Möser, wenn er klagt: „Alle deutsche Waare hat dermalen etwas Unsolides.“

War es denn aber auch etwa ein für die Gesammtheit heilsamer Zustand, wenn noch bis vor etwa 30 Jahren in Leipzig, einer Stadt von damals schon mehr als 60,000 Einwohnern, nur 32 Bäcker und nur 4 Apotheken das Recht hatten, die Bedürfnisse des Publicums zu befriedigen? Oder wenn in der baierischen Residenz München gewisse Eßwaaren (die sogenannten Kräpfel oder Pfannkuchen) nicht zu haben waren, weil die Bäcker zwar das Privilegium hatten, den Teig, nicht aber auch die, nur den Conditoren zustehende Fülle zu bereiten? In dem Archiv der Kramerinnung zu Leipzig liegen ungefähr 700 Actenstücke: davon handeln wohl 600 von nichts als von Streitigkeiten dieser Kramerzunft bald mit den Schneidern, bald mit den Tuchmachern, bald mit den Apothekern, mit den Italienern etc. – über angebliche Verletzungen ihrer „Privilegien“. Da wird durch alle Instanzen hindurch processirt um ein paar Loth Seide, welche ein Schneider unbefugter Weise, soll verkauft haben! Da dauern einzelne solche Processe nicht blos Jahre, sondern Jahrzehnte! Da übersteigen die Kosten des Streites den Werth des Streitobjectes oft um das Drei- und Vierfache! Da wird eine kostbare Zeit der Innungsvorstände, der Obrigkeit, der Gerichte, ja bis hinauf zu den höchsten Landesbehörden, in solchen Streitigkeiten verschwendet! Oder war es etwa dem Handel, und der Landwirthschaft förderlich, wenn wegen des Leipziger Stapelrechts der Wollproducent seine Wolle nicht direct dem Fabrikanten in der nächsten Stadt, verkaufen, sondern sie erst 10, 12 Meilen weit nach Leipzig fahren und der Fabrikant sie erst wieder von dorther beziehen mußte, wobei die Spesen 20, 25 oder mehr Procent der Waare verschlangen; wenn der Elbhandel brach lag, weil alle Güter nur auf den vorgeschriebenen Straßen über Leipzig vertrieben werden durften?

Ein anderes vielbeliebtes Thema unserer mit der Gegenwart unzufriedenen Fanatiker der Vergangenheit ist die angeblich größere „Familienhaftigkeit“ früherer Zeiten. Auch auf diesem Gebiete ist mit allgemeinen Redensarten und vorschnell aus einzelnen Vorgängen gezogenen Schlüssen viel gesündigt worden: Wir sind gewiß weit entfernt, unsern Altvordern den Ruhm schmälern zu wollen, daß im großen Durchschnitt ihr Familienleben ein gesundes, wohlgeordnetes, inniges gewesen sei. Zu allen Zeiten war, dem Himmel Dank, in Deutschland „das Haus“ der sichere Hort, wohin sich deutsches Gemüth, deutsche Ehrbarkeit, deutsche Treue flüchteten, so oft in anderen Kreisen des Lebens diese edelsten Güter verkümmert oder gar verschwunden schienen. Aber wir bestreiten es, daß nicht auch noch heut das „deutsche Haus“ in der Mehrzahl der Fälle diesen alten Ruhm bewahre. Ja wir sind so kühn, zu behaupten, daß mindestens gegen die letzten Jahrhunderte (das 17. und 18.) gerade hierin ein zweifelloser Fortschritt eingetreten ist.

Man bedenke, unter Anderem nur das Eine: wie sah es damals mit dem Familienleben in der sogenannten „guten“, das heißt vornehmen Gesellschaft, namentlich aber an den Höfen aus? Man lese nur die zahlreichen Memoiren aus jenen Kreisen selbst (gewiß unverdächtige Zeugnisse!), mit ihren sehr offenherzigen Schilderungen der dort herrschenden Ansichten und Sitten – die Denkwürdigkeiten der Markgräfin von Bayreuth, die Memoiren des Herrn von Pöllnitz, die Saxe galante, die Briefe der Lady Montague, und man wird ein ganz anderes Bild erhalten, als das einer im Punkte der Sittlichkeit „guten“ Zeit. Und selbst in vielen Kreisen des Bürgerthums, wenigstens des wohlhabenderen, stand es damit kaum besser. Wie die höfischen Kreise sich über die bürgerliche Moral hinwegsetzen zu dürfen glaubten, so nahmen auch die „Honoratioren“ oder „Patricier“ in den großen Städten ein ähnliches Privilegium der Leichtfertigkeit für sich in Anspruch, indem sie meinten, die strengere Sitte, namentlich auch des Hauses, sei höchstens für den kleinen Bürger, den Handwerker, gut genug. Besonders Leipzig hatte in dieser Hinsicht in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts nicht den besten Ruf. Goethe, der bekanntlich 1765 bis 1768 hier studirte, spricht in Briefen an Freunde von „dem verfluchten Leipzig, wo ein junger Mann so schnell wegbrennt wie eine Pechfackel“. Der berüchtigte Bahrdt, dessen Jugend um zehn Jahre später fällt, erzählt Dinge, die uns merkwürdige Begriffe von dem Familienleben dieser Stadt in damaliger Zeit geben. Zahlreiche Flugschriften, wie „Leipzig im Profil“, „Leipzig im Taumel“, „Leipziger Allerlei“,: „Vertraute Briefe über Leipzig“, „Freie Anmerkungen über Leipzig, Berlin und Prag“ etc., malen dieses unerquickliche Bild mit großem Behagen weiter aus, und selbst die wenigen Gegenschriften, welche Leipzig in Schutz nehmen, wissen kaum etwas Anderes anzuführen, als daß es hier nicht schlimmer sei, als in anderen großen Städten. Von Wien gesteht Karoline Pichler, eine geborene Wienerin, daß es dort erst im 19. Jahrhundert mit der Sittlichkeit etwas besser geworden, und von Hamburg weiß Friedrich Perthes, der in seinen jungen Jahren (zu Ende des 18. Jahrhunderts) dort lebte, auch nicht, viel Tröstlicheres zu melden.

Prüfen wir, wodurch es in diesem Punkte besser geworden ist, so werden wir auf eine Wahrnehmung geführt, die freilich den meisten Lobrednern der „alten Zeit“ in ihren Kram wenig paßt. Offenbar nämlich war es das Erstarken der öffentlichen Meinung und das sich immer mehr ausbreitende Bewußtsein allgemeiner Gleichheit, was jenen „noblen Passionen“ der vornehmeren und wohlhabenderen Classen einen heilsamen Dämpfer aufsetzte.




Fürst und Kanzler.
Ein Capitel aus der dänischen Geschichte.

Ein junger Fürst, der die Jahre der Mündigkeit noch nicht erreicht hat, steht am Sterbebette seines ersten Rathgebers, des treuen Meisters, der ihn in der schweren Kunst des Regierens unterwies, ihm Ziel und Wege bereitete, und von dem er nun die letzten Worte weiser ehrlicher Mahnung empfängt. Und der Jüngling sieht und weiß, daß in der nächsten Stunde der beredte Mund verstummt, die leitende Hand erstarrt – ist das nicht ein Act, der unsere menschliche Theilnahme noch weit mehr in Anspruch nimmt, als die damit verbundene politische Bedeutung?

Einen solchen Moment aus der reichen Geschichte seines Heimathlandes hat der dänische Historienmaler Professor Karl Bloch in Kopenhagen in dem nebenstehenden Gemälde „Christian IV. am Sterbebette seines Kanzlers Niels Kaas“ versinnbildlicht.

König Christian IV. von Dänemark steht in Folge seiner Theilnahme am Dreißigjährigen Kriege auch unserem Gedächtnisse nahe, wenn er dabei auch durch die leuchtende Gestalt seines königlichen Nachbars Gustav Adolf von Schweden etwas in den Schatten gestellt wird.

Als sein Vater, der König Friedrich II., im Jahre 1588 starb, war Christian erst elf Jahre alt. Bis zu seiner Volljährigkeit wurde ein Regentschaftsrath eingesetzt, an dessen Spitze der Reichskanzler Niels Kaas stand. Er war schon der erprobte Rathgeber des verstorbenen Königs gewesen. Alles, was in den letzten siebenzehn Jahren von Friedrich’s Regierung nach außen und innen von irgend welcher Wichtigkeit unternommen ward, das hatte er veranstaltet und vermittelt. Er war denn auch die Seele

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 148. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_148.jpg&oldid=- (Version vom 3.12.2022)