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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Die Lumpensammler von Paris.

Von Max Nordau.


Vom phantastischen Hintergrunde des Pariser Lebens heben sich drei Figuren ab, welche die Poesie und die Legende mit allem Zauber der Romantik ausgestattet hat: Mimi Pinson, Gavroche, Vireloque. Der Fremde, der von der französischem Hauptstadt nichts weiß, als was er in den Romanen der Pariser Autoren und in ihren zugleich übertriebenen und verwässerten ausländischen Nachahmungen, in stereotypen Reisebeschreibungen und in den lyrisch-hyperbolischen Ergüssen, zu denen sich jeder Journalist in seinen ersten Aufsätzen über Paris verpflichtet glaubt, gelesen hat, kann an die Stadt nicht denken, ohne die Gestalt der gemüthvollen und anmuthigen Grisette, des geistsprühenden und heroischen Gassenjungen und des gnomenhaft geheimnißvollen und philosophischen Lumpensammlers vor seinem Auge aufsteigen zu sehen. Aber diese Gestalten, mit denen die Einbildungskraft des Fernstehenden Paris bevölkert, der Bewohner der Stadt wird sie vergebens in den Straßen suchen. Wer sie wirklich antreffen will, der muß in den Büchern von Musset, von Victor Hugo, von Murger, von Privat d’Anglemont, in der Literatur der langhaarigen Romantiker aus den dreißiger Jahren nach ihnen ausschauen; im Leben wird er ihnen nicht begegnen.

Mimi Pinson wohnt da nicht in blumengeschmücktem Dachkämmerlein, singt nicht mit einem Canarienvöglein um die Wette harmlose Lieder voll unschuldiger Heiterkeit oder thränenfeuchter Melancholie und hängt nicht in selbstloser Liebe an einem Studenten, dessen einziger Reichthum seine zwanzig Jahre sind, sondern sie ist eine arbeitsscheue Dirne, dumm wie ein Fisch, langweilig wie ein Regentag, eitel und selbstsüchtig wie kein anderer Menschentypus in der weiten Welt, ein erniedrigtes Geschöpf, das sich dem Meistbietenden verkauft und dessen Anhänglichkeit genau so lange währt, wie die Freigebigkeit des Verehrers.

Gavroche ist nicht der witzige Beobachter und Kritiker, der aus einem Chore des Artstophanes ausgebrochen zu sein scheint, der die Mächtigen mit dem Scheidewasser. seines Spottes überschüttet und die Tapferen mit einem feinsinnigen Compliment wie mit einer Bürgerkrone bekränzt, eine jede Lage in einem überraschenden Witzworte zusammenfaßt, an Festtagen in den Straßenbacchanalen als Verkörperung hinreißender Lustigkeit die erste Rolle spielt und in den Stunden des Kampfes um große Freiheitsideen mit einem geistreichen Epigramme auf den Lippen stirbt, sondern er ist ein trübseliger, blutarmer, skrophulöser Junge, vorzeitig reif und bis ins Knochenmark verdorben, frech allerdings und ohne Achtung vor irgend etwas Lebendem oder Todtem, aber zugleich unwissend und beschränkt, voll böser, schmutziger Instincte und unfläthiger Gewohnheiten, fähig, einem mühselig humpelnden Mütterlein ein Bein zu stellen, einem Blinden die Almosenpfennige aus der Schale zu stehlen und einem auf der Boulevardbank duselnden Betrunkenen den Bart abzusengen oder die Kleider anzuzünden, in Volksaufständen gern plündernd und meuchlings mordend und auf der Barricade mehr aus leichtsinniger Verkennung der Gefahr als aus bewußter Tapferkeit sterbend.

Und ebenso wenig ist Vireloque ein seltsamer, tiefsinniger Weltweiser, eine Art Diogenes ohne Faß, doch mit einer Kiepe, einer Blendlaterne und einem Stöberhaken, der in schweigender Nachtstunde plötzlich an einer Straßenecke auftaucht, mit dem verspäteten Wanderer ein schopenhauersches Gespräch anknüpft, in welches er Anführungen aus classischen Dichtern, geschichtliche Anekdoten und intime Bemerkungen über hochstehende Persönlichkeiten einflicht, und an einer andern Straßenecke den erstaunten Begleiter ebenso jäh wieder verläßt, sondern er ist ein ganz gewöhnlicher, bescheidener Proletarier, der mit unsauberer, aber immerhin nicht ganz unnützer Arbeit einige Franken täglich verdient und in die tödtlichste Verlegenheit geriethe, wenn man von ihm eine Causerie verlangen würde, wie sie ihm von den poetischen Schilderungen in den Mund gelegt werden.

Dennoch ist Vireloque während der letzten vierzehn Tage der Held im Drama des Pariser Lebens gewesen. Alle Zeitungen haben sich mit ihm beschäftigt, emsige Federn seine Naturgeschichte, seine Psychologie, seine auf- und absteigenden Lebensläufe geschrieben, die Salons über ihn geplaudert, die Vertretungskörper der Gemeinde und des Staates über ihn berathen. Reporter haben ihn in seiner Wohnhöhle aufgesucht und ihm die Geheimnisse seines Daseins abgefragt, Politiker ihm ihr Wort zur Verteidigung seiner Interessen angeboten, Parteien sich ihn streitig gemacht. Was war der Anlaß, daß sich die allgemeine Theilnahme der Weltstadt plötzlich so bestimmt der dunkelsten Classe ihrer Bevölkerung zuwandte? Die Präfectur hatte angeordnet, daß der Kehricht eines jeden Hauses in einen Behälter gesammelt und Morgens vor die Hausthür gestellt werde, um in den zu bestimmter Stunde vorüberkommenden Kehrichtwagen geleert zu werden. Rücksichten der Reinlichkeit und Gesundheit forderten diese Maßregel, welche einen Fortschritt gegen die früheren Zustände bedeutete. Denn bis dahin war der Hauskehricht einfach auf die Straße geworfen worden und die städtischen Arbeiter konnten zusehen, wie sie mit seiner Wegschaufelung fertig wurden.

Ja, aber diese fröhlich unter der Sonne – oder unter den Sternen – ausgebreiteten Kehrichthaufen gestatteten den Lumpensammlern, in aller Bequemlichkeit zu wühlen und zu stöbern, während der tiefe Behälter, der zur bestimmten Stunde auf der Straße erscheinen und alsbald wieder verschwinden soll, seine bescheidenen Schätze viel eifersüchtiger birgt und den armen Vireloque zu einer wahren Bergmannsthätigkeit zwingt, um aus den gleichgültigen Abfällen bis auf den Boden des Gefäßes hinab alles für ihn Werthvolle zu erschürfen. Die Lumpensammler klagten und jammerten, und das Publicum nahm für sie Partei. Es fand zu seiner eigenen Ueberraschung, daß es für Vireloque eine gewisse, fast hätte ich gesagt sentimentale Zärtlichkeit empfinde. Gegen die Verordnung der Präfectur läßt sich nichts Vernünftiges sagen; sie beseitigt eine Barbarei, die man allenfalls in Constantinopel oder Kairo, aber nicht im eleganten Paris begreift. Und doch fordert man ungestüm ihre Abschaffung, weil man nicht will, daß an das Interesse des braven Lumpensammlers gerührt werde.

Es ist bei dieser Gelegenheit viel Falsches und Uebertriebenes von ihm erzählt worden. Man hat behauptet, daß es in Paris 30, ja 50,000 Lumpensammler gebe, die durchschnittlich 6 Franken täglich erstöbern. Das gäbe täglich 300,000 und jährlich 1091/2 Millionen Franken oder nahezu 88 Millionen Mark, weit mehr als irgend ein bekanntes Goldbergwerk liefert, sodaß man glauben müßte, der Pariser Kehricht berge reichere Schätze in sich als die „placers“ Californiens. Das ist aber blos Reporteraufschneiderei. Die Wirklichkeit zeigt weniger großartige Verhältnisse. Nach einer amtlichen Darstellnug des Chefingenieurs von Paris, Herrn Alphand, beschäftigen sich 7050 Personen beiderlei Geschlechts mit Lumpensammeln, von denen 5248 in Paris selbst und 1802 in den Vororten außerhalb der Ringmauer wohnen, von wo sie allnächtlich zur Stadt wandern, um mit dem Morgengrauen unter der Last ihrer gefüllten Kiepe keuchend heimzukehren. Auch einen so reichen Lohn, wie die enthusiastischen Schilderer meinen, wirft das Gewerbe nicht ab. Vireloque darf auf keine höhere Tageseinnahme als 3 Franken rechnen, und die gesammte Ausbeute der ehrenwerthen Körperschaft stellt, wenn das Jahr herum ist, höchstens einen Werth von 6 bis 7 Millionen dar.

Das ist noch immer eine ansehnliche Summe, und man ist zu der Frage berechtigt, welche Schätze denn eigentlich der Kehricht enthält, daß man Millionen aus demselben auslesen kann? Findet der Lumpensammler vielleicht Perlen oder Schmucksachen aus Edelmetall oder Geldscheine? Nein, das ist es nicht; wenn er ausnahmsweise auch einmal dergleichen aufstöberte, so wäre er gehalten, es dem „Concierge“ oder Thorwart des betreffenden Hauses zurückzugeben, und man versichert, daß er dies in der Regel ehrlich thut. Die Kostbarkeiten, nach welchen der Lumpensammler fahndet und deren Werth doch auch Millionen beträgt, sind viel bescheidenerer Natur; es sind Knochen, Papier- und Stofffetzen, Glasscherben, Metallabfälle; aber da gilt das Wort: „Die Menge muß es machen“.

Einzeln werthlos, erreichen diese Dinge in größeren Partien ganz annehmbare Preise, die nur wenig schwanken und über welche der früher genannte Herr Alphand zuverlässige Angaben machte. Es werden in Paris bezahlt: für 100 Kilo Knochen 4 Franken, Papier (je nach dessen Feinheit) 1 bis 5 Franken, Schafwolllappen 40 Franken, Kupferabfälle 80 Franken, Sardinen- und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_163.jpg&oldid=- (Version vom 6.7.2020)