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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

die epidemischen Krankheiten fordern unter ihnen nicht mehr Opfer, als unter der übrigen Armenbevölkerung.

Der größte Theil der Lumpensammler hat nie ein anderes Gewerbe betrieben. Man ist Lumpensammler vom Vater auf den Sohn. Man arbeitet schwer, muß große Lasten schleppen, die Nacht zum Tage machen, bei Sturm und Regen hinausgehen, aber man hat sein Auskommen. Ein dürftiges, aber gleichmäßiges Auskommen, gleichmäßiger, als es manches andere höher stehende Handwerk gewährt, in welchem man es auf 10 bis 12 Franken Tagelohn bringen kann, aber auch Perioden der Arbeitslosigkeit ausgesetzt ist. Zur Polizei unterhalten die Lumpensammler die besten Beziehungen. Wenn sie auch ziemlich außerhalb der bürgerlichen Sittengesetze leben, selten vor dem Standesamte eine Ehe eingehen, gewöhnlich keiner Religion angehören, ohne sicheren Civilstand geboren werden, altern und sterben, so sind doch Verbrechen unter ihnen nahezu unbekannt, und sie gehören vor Allem zu den friedlichsten und gehorsamsten Bewohnern des unruhigen Paris. An den häufigen Revolutionen nahmen sie keinen Antheil, selbst während des Commune-Aufstandes verhielten sie sich ruhig, und man erzählt den bezeichnenden Zug, daß sie auf ihren nächtlichen Rundgang auszogen und ruhig stöberten, als in der „blutigen Woche“ des Jahres 1871 ein Theil von Paris brannte und in anderen Theilen Versailler und Communards noch mit der Wildheit von Menschenfressern gegen einander kämpften.

Alle diese Züge ergeben zusammen das Bild eines ehrlichen, aber recht prosaischen Arbeiters, der sich in seinem einigermaßen schmarotzerischen Gewerbe als Rohstofflieferant gewisser nebensächlicher Industrien und Verwerther unbrauchbarer Abfälle nützlich zu machen sucht. Wie konnte nun gerade diese Figur eine der populärsten des Pariser Lebens werden? Wie konnte sie solches Interesse und solche Sympathie in Paris und darüber hinaus erwecken? Wie konnte ihr die Legende einen Glorienschein um das struppige Haupt zaubern? Ich erkläre mir dies nur dadurch, daß die Romantiker sich viel mit dem Lumpensammler beschäftigt und ihn idealisirt haben. Daß sie aber auf ihn geriethen, das lag bei ihren allgemeinen Tendenzen und Neigungen nahe. Die Romantiker hatten einen Haß auf alles normal Bürgerliche und herkömmlich Regelmäßige. Sie schwärmten für das Ungewöhnliche, für das, was aus der philiströsen Ordnung des Staates, der Gesellschaft, des Erwerbslebens heraustrat; deshalb waren ihnen Zigeuner interessanter, als ansässige, Gewerbssteuer zahlende Gewürzkrämer, Verbrecher und Scharfrichter anziehender, als Schutzmänner und Richter, thörichte Jungfrauen lieber, als weise. Der Lumpensammler mußte den Romantikern in’s Auge stechen. Er arbeitete nicht am Tage wie ein Schuster und Schneider, sondern zur schauerlichen Nachtzeit; er brach wie die Fledermäuse aus unbekannten Schlupfwinkeln hervor und verkroch sich wie diese bei aufgehender Sonne wieder; man begegnete ihm zur mysteriösen Geisterstunde in den schweigenden, schlafenden Straßen, welche mit ihm nur noch die auf Eindrücke, Stimmungen und Entdeckungen ausgehenden Romantiker theilten, und er trug vor Allem eine Blendlaterne. O, diese Blendlaterne! Ich bin überzeugt, daß sie allein mehr als alles Andere dazu beigetragen hat, den Lumpensammler zur Lieblingsfigur der Romantiker zu machen. Die Ideenassociation spielt bei Phantasiemenschen eine große Rolle, und die Blendlaterne erweckt die Vorstellung von außerordentlichen Erlebnissen, nächtlichem Gräuel und dramatischer Missethat. Vom Lichte seiner eigenen Blendlaterne ist ein Strahl auf den Lumpensammler gefallen und hat ihn in poetisches Licht gesetzt. Ginge Vireloque am Tage seinem Gewerbe nach, er hätte nie die Ehre eines Romans oder Dramas erhalten.

Zweifellos giebt es unter den Lumpensammlern, namentlich unter den „Bönhasen“ des Gewerbes, den dilettantischen „biffins“, curiose Gestalten, die aus dem Rahmen der Alltäglichkeit heraustreten. Die Deserteure und Nachzügler des Kampfes um’s Dasein, die Declassirten aller höheren Berufe mögen oft genug zum Stöberhaken greifen, da seine Handhabung keinerlei Vorbereitung erfordert. Wie man in den Pariser Asylen für Obdachlose verkommene Marquis und Grafen, Priester und Professoren, Aerzte und Advocaten, ehemalige Präfecten und erste Tenöre antrifft, so mag ab und zu ein solcher Schiffbrüchiger des Lebens auch unter die Bevölkerung der Rue Mouffetard verschlagen sein – Abfälle der Weltstadt, die sich von Abfällen der Weltstadt zu fristen suchen! So ergeben sich wunderliche Begegnungen wie die, welche der arme Gérard de Nerval erzählt. Er ging eines Nachts gegen drei Uhr leicht angetrunken nach Hause und holte einen Lumpensammler ein, der langsam vor ihm einherschritt.

„Wie viel Uhr ist es, mein Freund?“ fragte der Dichter.

„Quota hora est?“ antwortete der Angeredete, „tertiam esse credo.“[1]

Und als Gérard de Nerval ihn überrascht ansah, fuhr der Lumpensammler in elegantestem Salonfranzösisch fort:

„Sie wundern sich, edler Trunkenbold, daß ich mit Ihnen lateinisch spreche? Erfahren Sie, daß Sie die Ehre haben, mit dem langjährigen Secretär und Mitarbeiter des Herrn von Beaumarchais zu sprechen.“ Darauf grüßte er und schwenkte in eine Seitengasse ab.

Wie gesagt, solche Begegnungen sind möglich, aber sie dürften wohl äußerst selten sein. Die volksthümliche Legende jedoch verallgemeinert diese ausnahmsweisen Anekdoten und macht aus jedem Ritter des Stöberhakens einen Incognito-Herzog oder heruntergekommenen Archäologen. Das ist die Macht der Literatur auf den Volksgeist. Vireloque ist und bleibt in der Vorstellung der Menge eine romantische Figur. Mit leichter Aenderung des Dichterworts kann man sagen: die Menschenclasse, bei der ein dichterischer Geist idealisirend verweilte, „sie bleibt geweiht für alle Zeiten“.

  1. „Wie viel Uhr es ist? Ich glaube, es ist drei Uhr.“

Heinrich Heine’s Memoiren über seine Jugendzeit.

Herausgegeben von Eduard Engel.
Nachdruck verboten. Uebersetzungsrecht vorbehalten. 

III.

Nach meiner Mutter beschäftigte sich mit meiner Erziehung ganz besonders ihr Bruder, mein Oheim Simon de Geldern. Er ist todt seit 20 Jahren. Er war ein Sonderling von unscheinbarem, ja sogar närrischem Aeußeren. Eine kleine, gehäbige Figur, mit einem bläßlichen, strengen Gesichte, dessen Nase zwar griechisch gradlinigt, aber gewiß über ein Drittel länger war, als die Griechen ihre Nasen zu tragen pflegten.

In seiner Jugend, sagte man, sei diese Nase von gewöhnlicher Größe gewesen und nur durch die üble Gewohnheit, daß er sich beständig daran zupfte, soll sie sich so übergebührlich in die Länge gezogen haben. Fragten wir Kinder den Ohm, ob das wahr sey, so verwies er uns solche respektwidrige Rede mit großem Eifer und zupfte sich dann wieder an der Nase.

Er ging ganz altfränkisch gekleidet, trug kurze Beinkleider, weißseidne Strümpfe, Schnallenschuhe und nach der alten Mode einen ziemlich langen Zopf, der, wenn das kleine Männchen durch die Straßen trippelte, von einer Schulter zur andern flog, allerley Capriolen schnitt und sich über seinen eigenen Herrn hinter seinem Rücken zu mokiren schien. Oft, wenn der gute Onkel in Gedanken vertieft saß oder die Zeitung las, überschlich mich das frivole Gelüste, heimlich sein Zöpfchen zu ergreifen und daran zu ziehen, als wäre es eine Hausklingel, worüber ebenfalls der Ohm sich sehr erboßte, indem er jammernd die Hände rang über die junge Brut, die vor nichts mehr Respekt hat, weder durch menschliche noch göttliche Autorität mehr in Schranken zu halten sei und sich endlich an das Heiligste vergreifen werde.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 165. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_165.jpg&oldid=- (Version vom 4.3.2024)