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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

No. 11.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Ein armes Mädchen.
Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Das junge Mädchen fuhr jäh empor; die Scenen der Nacht standen wie mit einem Zauberschlage vor ihrer Seele. Ach, es ist schrecklich; wenn ein paar Stunden Schlaf die traurige Gegenwart hinweggescheucht haben, doppelt schwer überfällt dann beim Erwachen die Wucht des Leides die geängstigte Seele, sie auf’s Neue erschreckend, auf’s Neue zu Boden schleudernd.

Sie strich sich über die Stirn; ob es denn Wahrheit? Und wie um sich zu überzeugen, stand sie auf und schlich an der schlummernden Frau von Ratenow vorüber in das Nebenzimmer.

Eine starke Zugluft wehte ihr entgegen, die Fenster waren geöffnet, und über das, was dort auf dem Bette lag, hatte man ein weißes Laken gebreitet. Unbeweglich starrte sie es an; eine furchtbare Kälte stieg ihr zum Herzen, und unwillkürlich schlangen sich ihre Hände in einander. „Vater unser, der Du bist im Himmel,“ klang es in ihrer verstörten Seele, sie fühlte, sie müsse beten, und hatte doch nicht die Macht, ihre Angst, ihre Bitten in eigne Worte zu kleiden – „und vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern!“

Dann flogen erschreckend grelle Töne in das Gemach, dort unten auf der Straße blies der Trompeter, wie allmorgendlich, die Reveille.

„Dem Papa seine Soldaten müssen aufwachen,“ hatte Tante Lott dem kleinen Mädchen einst erklärt, wenn die munteren Klänge hinübergeschallt waren bis in die Burg.

„Komm, Else, mein altes Gör, das weckt ihn nimmermehr!“ sagte Frau von Ratenow’s Stimme, und sie zog das Mädchen an die Brust. „Ihm ist wohl, mein Kind – nicht wahr, wir gönnen ihm den Frieden?“ –

Das Begräbniß war vorüber. Die Herren des Gefolges kamen vom Kirchhofe zurück und verabschiedeten sich vor der Pforte desselben von Moritz und dem Bennewitzer.

Lieutenant von Rost schlenderte über den Fahrweg, um seine Braut und Schwiegermutter zu begrüßen, die jenseits desselben spazieren gingen; vielleicht nicht blos aus dem Grunde, um frische Luft zu schöpfen, sondern um ein bischen zu sehen von der Leichenparade. Frau Cramm liebte das, und Annie nicht minder; ein großes Feuer, eine Trauung oder ein Begräbniß trieb sie sicher in die Nähe des Schauplatzes.

Der Bräutigam grüßte und ging neben Annie her, ohne ihr den Arm zu bieten; besonders ritterlich war er nicht veranlagt, und er hatte auch von vornherein seine Braut nicht verwöhnt mit dergleichen Dingen, was Annie jedoch tief und schmerzlich empfand; es wäre doch hübsch gewesen, so recht innig und zärtlich selbander durch die Straßen zu ziehen, damit die Leute auch sähen, wie sie sich lieben.

„Lieber Sohn,“ begann Frau Cramm, „hörtest Du nicht, wie es Fräulein von Hegebach geht? Sie soll ja förmlich versteinert sein im Schmerz, wie Annie mir erzählt.“

Die junge Dame nickte eifrig. „Ja, denke Dir, Leo, ich war vorhin dort – sie sprach gar nicht und sieht aus zum Erbarmen; sie hat sich doch mit dem alten Mann nur ‚so so‘ gestanden und au fond gar keinen Grund zu dieser Verzweiflung! Aber sie ist wie zerschmettert – begreifst Du das?“

Er ließ den Kneifer fallen. „Es wäre möglich,“ erwiderte er, „zwei so erschütternde Vorgänge auf einmal.“

„Zwei?“ Mutter und Tochter riefen es wie aus einem Munde.

Er schwieg eine Weile und sagte dann: „Sie hat sich am Sterbebette des Vaters mit dem Bennewitzer verlobt.“

Ein doppelter Laut des Erstaunens traf sein Ohr. „Hat das Mädchen ein Glück!“ rief die rundliche ältere Dame im schwarzen Sammetpaletot.

„Es ist erstaunlich, nicht wahr?“ fragte Lieutenant von Rost mit einer Miene, die es stets zweifelhaft ließ, ob er es ironisch oder ernsthaft meine.

„Ein großes Glück!“ wiederholte Frau Commerzienrath Cramm. „Und das herrliche Bennewitz und die kostbare Equipage! Im vorigen Jahr war ja sogar Prinz H. dort zur Jagd!“

Annie schwieg. Sie dachte daran, wie Else in der Pension so oft bis zur Ermüdung über den Büchern gesessen und gelernt für das Erzieherin-Examen, wie sie sich stets so einfach gekleidet. Ja wahrhaftig, das ist Glück! Wer hätte das gedacht!

So flog denn die Kunde von einer Verlobung der kürzlich Verwaisten mit dem Oheim durch das Städtchen, in Windeseile; und sie selbst saß in ihrem Mädchenstübchen in dem langen schleppenden Trauerkleide, und über der tiefschwarzen Crêprüsche leuchtete ihr bleiches Gesicht förmlich geisterhaft, mit dem unendlich wehen Zug um den Mund.

Viel hatte sie noch nicht gesprochen seit jenem Morgen, aber Tante Ratenow desto mehr. Sie hatte auch nicht geweint, aber sie war umhergegangen mit der verstörten Miene, hatte sich von einem Platz auf den andern gesetzt, die Hände im Schooß und finster zur Erde blickend; kaum daß Nahrung über ihre Lippen

gekommen, kaum daß sie Nachts ein wenig geschlummert. Sie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 173. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_173.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)