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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Musenalmanach der dritten französischen Republik sein, im Sinne und Geiste der Partei, deren Führer Gambetta war. Revanchepolitik steht ja auf deren Fahne, wenn sie auch aus guten Gründen nicht offen entrollt wird. Aber man weist doch bei jeder Gelegenheit auf sie mit Vorliebe hin.

In der „Nouvelle Revue“ giebt sich Alles Stelldichein, was in derselben Politik macht, und fährt man da auch mit den Aeußerungen nicht so plump heraus, wie in der Presse der Patriotenliga, so nährt man doch mit Zuvorkommenheit alle die nationalen Bitterkeiten, die sich gegen Deutschland richten oder einmal richten lassen können. Die politische Weisheit der Juliette Lamber ist dieselbe der Madame Adam, die über die Vorstellung nicht hinauskommt, daß die Prussiens die Welt, die einst so schön unter Frankreichs Gloiresonne war, für alle braven Völker verdorben haben und diese alle vor den preußischen Spionen und Verräthern auf der Hut sein müssen, bis die Stunde der Rettung und Befreiung schlägt und Frankreichs neueste Muse kriegswüthig ihrem Gefolge zurufen kann: „A Berlin!“ Vorderhand begnügt sie sich, in ihrer Revue Schmähartikel über die „Berliner Gesellschaft“ zu publiciren, welche in letzter Zeit so viel ungerechtfertigtes Aufsehen erregt haben. Für uns hat das Bedürfniß der jungen Großmutter nach einer patriotischen Rolle modern-französischen Stils nur ein pathologisches Interesse. Im heiß erstrittenen Besitze unseres natürlichen Rechts als deutscher Nationalstaat kann seine Bedrohung aus Eifersucht uns nur eine Frivolität, seine Verunglimpfung aus Haß nur eine krankhafte Kraftleistung sein.




Das neue deutsche Bühnendrama.

Von Rudolf von Gottschall.
II.[1]

Ein anderer jüngerer Tragödiendichter, welcher der kraftgenialen Schule allgehört und seinen Werken eine etwas grell pessimistische Färbung ertheilt, Richard Voß, der Verfasser der „Scherben“, die meistens aus zertrümmerten Idealen bestehen, hat ebenfalls dramatische Preise erhalten, nicht wie Wilbrandt den Schiller- und Grillparzer-Preis, aber diejenigen, welche die Frankfurter Intendanz und das Mannheimer Hoftheater ausgesetzt hatten. Die geistige Atmosphäre der Vossischen Dichtungen hat etwas Schweres, Trübes, Vulcanisches; man bewegt sich oft wie im Rauchgewölk, das von Blitzen zerrissen wird; unheimliches unterirdisches Tosen kündigt gewaltsame Katastrophen an. Als das beste der Dramen von Richard Voß erscheint uns das Trauerspiel „Savonarola“, in welchem die dramatische Haltung noch am meisten harmonisch und edel ist; doch das Stück ist nie zur Aufführung gekommen. Die in Frankfurt gekrönte „Patricierin“ dagegen ist auf einigen der ersten Bühnen gegeben worden. Die Heldin des Stückes ist des Prätors Crassus Gemahlin, des Brudermordes Furie, ein stolzes, wildes Weib, entbrannt für den Sclavenführer Spartacus in einer zwischen Haß und Liebe schwankenden Leidenschaft. Sie vergiftet ihre Sclavin Hero, welche Spartacus liebt. Die großen Scenen zwischen ihr und dem Geliebten haben einen oft hinreißenden leidenschaftlichen Zug und sind auch theatralisch geschickt inscenirt; namentlich gilt dies vom vierten Acte, in welchem viel dramatische Bewegung ist: Spartacus erscheint von Liebe entflammt; aber der Anblick der Leiche der gemordeten Hero wandelt die Liebe in wilden Haß. In diesen Scenen zeigt sich Richard Voß als Schüler Wilbrandt’s, der auch das Geheimniß effectvoller theatralischer Steigerung besitzt. „Die Patricierin“ ist wie „Savonarola“ in Versen geschrieben. Die beiden neueren Prosastücke von Voß, „Pater Modestus“ und „Luigia Sanfelice“ entbehren den Halt, welchen der Vers unleugbar giebt; sie sind daher zerfahrener und wüster; der Diction fehlt es nicht an jenen ausschweifenden Hyperbeln, welche der Schillerschen Jugenddichtung eigenthümlich sind. Beide Stücke spielen in Italien, das erste in der Campagna in neuester Zeit. Pater Modestus ist nicht nur eine Art Pater Lorenzo, welcher hinter dem Rücken der Eltern ein liebendes Paar traut; er hat selbst eine Tochter, die gegen seinen Willen in’s Kloster gebracht wird und die er zu befreien sucht, ehe sie auf immer gebunden ist; er greift zuletzt zu einem verzweifelten Mittel, indem er das Kloster mit Hülfe der Hirten in Brand steckt. Die feindlichen Principien des starren Kirchenthums und der weltmännischen Aufklärung sind durch die Fürstin Romanella und den Grafen della Rocca in markiger Zeichnung vertreten. Das ganze Stück athmet die Freigeisterei der Leidenschaft.

„Luigia Sanfelice“, in Mannheim mit dem Preise gekrönt, der aus Anlaß der Säcularfeier der „Räuber“ ausgesetzt wurde, spielt in Neapel zur Zeit der revolutionären Bewegungen um die Wende des Jahrhunderts; die Heldin verfällt dem Schaffot als ein Opfer jener Conflicte zwischen den wilden Republikanern und den noch wilderen Royalisten, deren Glaubensarmee mit fanatischer Wuth Tausende dem Moloch ihrer Rache schlachtet; sie rettet den Geliebten vor der Proscription und verräth dadurch die Pläne der Gegner. In der athemlos einherstürmenden Handlung mit ihren grellen Motiven und Contrasten fehlt es zu sehr an Ruhepunkten; auch die Diction hat etwas Tumultuarisches. Daß Luigia Sanfelice im Kerker eines Kindleins genas, machte ihr Loos doppelt bedauernswerth; doch besonders in der ersten Bearbeitung war es dem Dichter nicht gelungen, dies für Bühnenaufführungen stets gefährliche Kind seiner Eigenschaft als enfant terrible ganz zu entkleiden. Das an einigen Bühnen gegebene Schauspiel: „Der Mohr des Czaren“ enthält eine barocke Mischung von Motiven des Intriguenlustspiels und der dichterischen Tragödie; es ist interessant, macht aber durchaus keinen harmonischen Eindruck. Voß ist der begabte Stürmer und Dränger unter den neuern Poeten; ihm ist künstlerische Klärung wünschenswerth, die er merkwürdiger Weise in seinen ersten Stücken mehr erreicht hat als in seinen letzten.

Wir können dem vereinzelten Aufleuchten jüngerer tragischer Talente, deren Stücke hier und dort an dieser oder jener Bühne gegeben werden, hier nicht näher folgen; nur erwähnen wollen wir noch, daß auch einzelne ältere Dramatiker sich mit sehr sporadischen Aufführungen ihrer neuen Stücke begnügen müssen. Das gilt von Joseph Weilen, dessen „Tristan“ durch edeln dichterischen Schwung, dessen „Graf Horn“ sich durch geistreiche und theatralisch wirksame Fassung hervorthat, dessen „Edda“ und „Drahomira“ seinerzeit über die meisten Bühnen gingen, der aber mit seinem neuesten Drama „König Erich“, trotz einzelner ergreifender Situationen von tragischer Kraft, keinen Treffer des Erfolges gezogen hat; dies gilt von Heinrich Kruse, dem wackern publicistischen Veteranen, der fast alljährlich ein neues Drama erscheinen läßt, aber immer mehr in den Kreis der Buchdramatik zurückgedrängt wird. Seine „Gräfin“, die bei dem Berliner Schiller-Comité und bei der Kritik Anerkennung gefunden, sein „Wullenweber“ wurde an einigen ersten Bühnen gegeben; um die meisten späteren Dramen kümmerten sich die Directoren nicht mehr; nur neuerdings ist sein Drama „Raven Bornekow“ unter dem Titel „Otto Voge“ am Stuttgarter Hoftheater mit Erfolg in Scene gegangen. Es hat die Vorzüge aller Kruse’schen Dramen: lebenswahre Charakteristik, einen Stil von einer oft köstlichen Naivetät und einen oft edeln Schwung, doch auch ihre Schattenseiten: eine mehr epische Zersplitterung der Handlung, den Mangel an einem die Spannung erregenden Aufbau, eine oft chronikartige Trockenheit des Stils und überwiegende, anekdotenhafte Verzierung.

Paul Heyse, der hervorragendste deutsche Novellist und feinfühlige Dichter, hat vorzugsweise mit seinem Schauspiel: „Hans Lange“, das sich durch genrebildliche Scenen und charakteristische Kraft auszeichnet, und durch sein, von patriotischem Schwung beseeltes und in den Volksscenen mit feiner Laune charakterisirendes Drama: „Colberg“ die Bühnen auf die Dauer erobert; seine neuesten Trauerspiele: „Graf Königsmark“ und „Elfriede“, denen sich der in Weimar aufgeführte „Alcibiades“ anschließt, verdienen mehr Anerkennung, als sie gefunden: sie sind mit feinem künstlerischen Geist componirt und auch die Sprache

hat lebhafteren dramatischen Pulsschlag, als die früheren Stücke

  1. Vergl. Nr. 3. dieses Jahrgangs.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 200. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_200.jpg&oldid=- (Version vom 3.11.2020)