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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

des Dichters. Neuerdings hat er ein durchaus originelles und geistreiches Drama: „Don Juan’s Ende“ geschaffen, in welchem er uns den spanischen Libertin als Vater eines wieder aufgefundenen Sohnes vorführt und ihn wie einen neuen Empedokles in den Flammen des Aetna untergehen läßt. An dieses Stück haben sich die Bühnen noch nicht gewagt, während sein Schauspiel: „Das Recht des Stärkern“, obwohl in seinen Grundzügen durchaus novellistisch, in Hamburg und Berlin mit Erfolg aufgeführt wurde.

Felix Dahn, dessen „König Roderich“ als dramatischer Culturkämpfer seinerzeit großen Erfolg hatte, pflegt neuerdings mehr das mittelalterliche Lustspiel. Der jüngst verstorbene türkische Gesandte Murad Efendi zeigte in seinen „Selim“ „Mirabeau“ und „Marino Falieri“, sämmtlich Dramen, die an großen Bühnen zur Aufführung gekommen sind, den echten Pulsschlag dramatischen Lebens, die feurigen Ergüsse leidenschaftlicher Kraft, ohne welche eine Tragödie nicht denkbar ist, während der preisgekrönte Dichter des „Brutus und Collatinus“, Albert Lindner, mit seinen ästhetisch ungeläuterten Dramen plötzlich von der Bühne verschwunden wäre, wenn nicht die Meininger sein bestes, allerdings auch von der Shakespearomanie angekränkeltes Drama: „Die Bluthochzeit“, bei ihren Tournées auf ihrem Repertoire erhielten.

Ein kühner Wurf war das Trauerspiel von Arthur Fitger: „Die Hexe“; es ist ebenso viel Volksthümliches wie Sensationelles in diesem von grellen Lichtern beleuchteten Gemälde; überall aber zeigt sich dramatisches Mark. Wo die eine Scene gemildert wurde, in welcher das Gebahren der freigeistigen Heldin allzu verletzend und renommistisch war, hat das Stück, bis auf den schwachen letzten Act, eine starke Wirkung nicht verfehlt.

Wenn das Theaterpublicum allen diesen Trauerspielen mit einer gewissen Reserve gegenübertritt und sich zum Enthusiasmus so selten wie möglich hinreißen läßt, es müßte denn ein zeitungsberühmter Künstler denselben als schuldigen Tribut verlangen, so zeigt es dagegen warme Theilnahme für das höhere Conversationsstück, mag dies nun ein Rührstück, eine comédie larmoyante sein oder ein Salonlustspiel, oder ein bürgerliches Lustspiel; hier aber ist das Gebiet, wo die Franzosen uns auf unserem eigenen Boden besiegt haben; die großen Erfolge gehören Stücken wie „Fernande“, „Dora“, „Odette“, „Feodora“ an. Der auf der Bühne erfolgreichste Dramatiker der Gegenwart in Deutschland heißt Victorien Sardou; doch auch Emil Augier und Alexander Dumas der jüngere theilen sich in diese Theaterlorbeeren. Soweit es sich um hervorragende Talente einer Nachbarnation handelt, brauchte man gegen diese Aneignungen wenig Einwendungen zu machen, denn die Empfänglichkeit für das Schöne aller Zeiten und Völker ist ja ein anerkennenswerther Zug unserer universalen Bildung; der Sinn für die Weltliteratur, den ein Goethe gepflegt hat, darf uns nicht zum Vorwurf gemacht werden. Schlimm steht es nur mit dem gegenseitigen geistigen Austausche der Grenznationen, dessen Gleichgewicht doch als eine nationale Ehrensache betrachtet werden sollte: der deutsche Export nach Frankreich steht mit dem französischen Import in Deutschland in gar keinem Verhältniß; er ist, was das Drama betrifft, gleich Null, denn es wird kein neues deutsches Schauspiel in Paris aufgeführt. Umgekehrt werden aber nicht blos die Werke jener hervorragenden Talente, sondern überhaupt alles, was auf einer Pariser Bühne erscheint, selbst wenn es dort Fiasco gemacht hat, nach Deutschland eingeführt: so groß ist der Heißhunger der Theater in den Hauptstädten nach französischer Nahrung; die Directoren wallfahren nach dem Seinebabel, suchen sich dort in den Antichambres der Poeten und Agenten den Rang abzulaufen und zahlen ihnen, außer den Tantiemen, noch bedeutende Prämien welche deutschen Dramatikern nie gezahlt werden. Das ist beschämend für unseren nationalen Ruf, wir erscheinen dadurch als eine geistig insolvente Nation ganz im Schlepptau unserer überlegenen Nachbarn.

Ein befremdendes Symptom dabei ist es, daß sich das deutsche Publicum in französischen Stücken allerlei gewagte Probleme gefallen läßt, die ein deutscher Autor nicht auf die Bühne bringen darf. Auch die geschicktesten Nachahmer der neuen Franzosen schrecken daher vor solchen Wagnissen zurück. Einer der gewandtesten Jünger der französischen Schule, Paul Lindau, der ihr nicht nur manchen Kunstgriff der dramatischen Technik abgelauscht hat, sondern auch zum Vortheil unseres Lustspiels wie jene einen eleganten Dialog mit größeren geistigen Perspectiven pflegt, kommt in seinen Salonstücken nicht über kleinbürgerliche Motive hinaus, indem er, „der Noth gehorchend, nicht dem eigenen Trieb“, alles in usum Delphini abzuschwächen sucht. So sind die Voraussetzungen seines besten Dramas „Maria und Magdalena“ so kindlicher Art, so confirmandenhaft zugestutzt, daß man gar nicht begreift, wie sich aus diesen Pensionsspielereien eine so ernste Handlung entwickeln kann. Ein französischer Autor hätte diese Vorgeschichte in ein ganz anderes Licht gerückt.

Paul Lindau hat mit seinen jüngsten Dramen nicht gleichen Beifall errungen, wie mit „Maria und Magdalena“, und „Ein Erfolg“, einem Stücke von höchst dünner Handlung und spärlicher Erfindung, das aber durch geistvollen Dialog und einige glücklich gezeichnete episodische Figuren, durch eine gewisse renommistische Frische das Publicum interessirte, besonders bei der vortrefflichen Aufführung am Wiener Burgtheater. „Johannistrieb“ und „Jungbrunnen“ sind immerhin fein entworfene Stücke mit stimmungsvoller Beleuchtung und geistigen Parallelen: doch es fehlt die rechte dramatische Spannung, das pièce de résistance in der Handlung, und gewisse stereotype Manieren des Dialogs und die stereotypen Gesichter der mehr französischen als deutschen ingénues, der unbeschriebenen weißen Blätter, die als Mädchencharaktere durch die Handlung flattern, schwächen den Eindruck der jüngsten Productionen Lindau’s wesentlich ab.

Auch Adolf Wilbrandt ist auf diesem Gebiete fruchtbar gewesen. Seine Einacter „Jugendliebe“, „Unerreichbar“, „Durch die Zeitung“ sind kleine Cabinetsstücke von feinstem Schliff espritvoller Conversation, die auch seinem Lustspiele „Die Maler“ ein anziehendes Gepräge giebt. Der erste Act derselben ist einer der besten Lustspielacte, von feiner Jovialität durchdrungen. Andere Lustspiele Wilbrandt’s waren Nieten, ein Schlag in’s Wasser: effectvoll dagegen war das Criminal-Schauspiel „Die Tochter des Fabricius“, in seinen Hauptscenen, wenn sie auch auf einem etwas grellen Canevas aufgetragen waren, ergreifend und erschütternd.

Ein sehr fleißiger Schauspieldichter ist Hugo Bürger, der jetzt sein Pseudonym abgelegt und sein letztes Stück „Aus einer Großstadt“ mit seinem Namen Hugo Lubliner veröffentlicht hat. Bürger’s Stücke haben meistens eine etwas weitläufige Anlage: er liebt es, mehrere Handlungen neben einander hergehen zu lassen, und es glückt ihm nicht immer, sie einheitlich zu verschmelzen. Er ist sehr sorgsam in den Motivirungen, aber er geräth gerade dadurch bisweilen in ein anfechtbares Detail. Sein Dialog ist die Sprache der gebildeten Conversation, sein Esprit nicht so leichtgeflügelt wie derjenige Lindau’s, aber doch nicht arm an glücklichen Wendungen.

Am meisten Erfolg hatte sein Lustspiel „Die Frau ohne Geist“. Warum die Heldin, die ein kluges Mädchen ist, die „Frau ohne Geist“ spielt, das ist vielfach motivirt, aber es fehlt das recht durchschlagende Motiv. Am Schluß des zweiten Actes wirft sie die Maske ab und erobert den Gatten; in den zwei letzten Aufzügen rächt sie sich als „Frau von Geist“ an einer Gegnerin und Nebenbuhlerin. Eine romantische italienische Novelle, welche man „Die Bettlerin von Santa-Croce“ nennen könnte, wird dann ohne jede durchgreifende Beziehung zur Haupthandlung noch in das Stück eingefügt. Auch verspürt man in manchen Vorgängen den Parfüm Sardou’scher Reminiscenzen.

Einheitlicher, aber in der Durchführung weniger interessirend ist „Gold und Eisen“. Der Held ist ein Techniker, der die beste Methode erfunden hat, das Eisen vom Phosphor zu befreien; die Heldin ist durch frühere Actienspeculationen um ihr Vermögen gebracht worden; sie gewinnt das verlorene „Gold“ durch das phosphorfreie „Eisen“ wieder; es ist natürlich, daß auch die Herzen sich finden.

Das Lustspiel „Auf der Brautfahrt“ beruht auf der hergebrachten Komik der Verwechselungen; frischer und freier gearbeitet, ohne allzu schweren Ballast von Motivirungen, ist „Jourfix“. Der „Jourfix“ ist freilich nicht in den Mittelpunkt der Handlung gerückt und hat nur eine nebensächliche Bedeutung; aber in dem ganzen Lustspiele herrscht gute Laune. Der berühmte Reisende, der edle Rumäne, der fashionable leichtlebige Arzt sind gute Lustspiel-Charaktere.

In dem neuesten Lustspiel „Aus der Großstadt“ ist die Handlung wieder verwickelter, hier und dort sogar etwas verzwickt, aber das Stück enthält einige nicht uninteressante Charaktere und Situationen, und die wirksamen Lichter in Ernst und Scherz sind an der rechten Stelle aufgesetzt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 202. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_202.jpg&oldid=- (Version vom 4.11.2020)