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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Ein armes Mädchen.

Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Der Brief des Bennewitzer lautete: „Mein Vorsatz, gnädigste Frau, heute bei Ihnen zu speisen, wurde mir leider unmöglich gemacht. Ich muß augenblicklich zurück nach Bennewitz, da soeben die Baucommission der M.’schen Eisenbahn die Strecke besichtigt, die über mein Terrain führt Verzeihen Sie die Eile, ich hoffe morgen mit Ihnen und meiner Braut in Ihrem trauten Heim ein paar Stunden verbringen zu können.

Ergebenft 
Hermann von Hegebach.“ 

„Gott sei Dank, es ist Frist gewonnen!“ Frau von Ratenow hatte wieder frischen Muth, sie konnte noch reisen um elf Uhr, sie konnte auch wohl auf das gütige Zureden der Schwester Beate in D. hoffen. Das Mädchen durfte nicht ihr Glück so mit Füßen von sich stoßen. Sie begann hastig ihre Vorbereitungen weiter zu treffen. Herr Gott, was mußte man nicht Alles thun um solch einen Trotzkopf! Wie ihr das Eisenbahnfahren verhaßt war, und in Halle mußte sie ein anderes Billet lösen! Ach, und der entsetzliche Trubel in Halle! Auf einmal kam ihr eine andere Idee – sie hatte das Trappeln eines Pferdes gehört und ging an’s Fenster. Wahrhaftig, er war es!

„Moritz!“ rief sie mit laut schallender Stimme über den Hof.

Er grüßte und nickte. „Gleich, Mutter!“

Und dann kam er in seiner ganzen Pomadigkeit daher, und sie hörte ihn noch im Flur mit dem Gärtner sprechen. Endlich trat er ein.

„Mein Gott, Jung, wie Du langsam bist!“ sagte sie ärgerlich.

„Hattest Du Eile? Verzeihe, Mütterchen.“

„Es ist ein Viertel auf elf Uhr, Moritz, und – – willst Du mir einen Gefallen thun, Moritz? Siehst Du, das Reisen wird mir schon sauer – fahr’ Du nach D., sprich Du mit Else, sie hat immer am meisten auf Dich gegeben. Du weißt noch gar nichts, Moritz? – nicht, daß die Krabbe ausgerissen ist? Oder doch? – Moritz, wußtest Du Etwas?“ Sie sah ihn forschend an.

Er blieb so ruhig bei ihren hastigen Worten.

„Ja wohl, Mutter, ich sah sie fortgehen.“

„Moritz! Und Du hast sie nicht gehalten, nicht mit aller Gewalt zu verhindern gesucht, daß sie ihren dummen sentimentalen Ideen folgte?“

Da stand er, so groß und breitspurig.

„Nein, Mutter!“ Und er nahm die Reitpeitsche wieder vom Tisch und bog sie in den Händen hin und her, so trotzig, wie er es als Junge gethan, wenn mal etwas nicht nach seinem Kopfe ging, und dennoch so überzeugend. „Nein, Mutter, dazu hatte ich kein Recht!“

„Mein Gott, Moritz!“ Die alte Dame war zornesroth geworden.

„Kein Recht!“ wiederholte er, „Du nicht und ich nicht, Mutter; das Recht hat, Gott sei Dank, Niemand bei unseren Gesetzen, ein Mädchen gegell ihren Willen zu einer Heirath zu zwingen.“

„Es ist um den Verstand zu verlieren! Was Ihr da alles für schöne Redensarten macht! Was zwang sie denn im entscheidenden Moment?“

„Alles! Die Menschen, die Umstände, das Leben und der Tod, Mutter. Und ihr eigen Herz schrie: ‚Nein!‘ Doch Niemand wollte es hören.“

„Aber warum, Moritz? Siehst Du denn den Grund ein? Ist es nicht in ihrer Lage ein Wahnsinn?“

„Einen Grund? Ja, frage danach nicht, Mutter; wer hat das Geheimniß ergründet, das einen Menschen zum andern hinzieht, einen von dem andern abstößt?“

„Du sprichst wie ein Versemacher, Moritz; sieh Dich doch um in der Welt, es ist Tag, heller Tag; das Menschenleben ist prosaisch, kein Idyll, es ist ein Kämpfen und Jagen, und Jeder sieht, wo er bleibt.“

„Und das, was diese Räder treibt, ist die Liebe, Mutter, und sie läßt sich nicht wegleugnen aus der Welt, wenn sich auch die Realisten noch soviel Mühe geben. Liebe und Treue – – das liegt einmal bei uns Deutschen so im Blute, Mutter,“ und er nickte ernsthaft mit dem Kopfe. „Ich kann Dir das nicht so sagen, dazu gehören schönere Worte, als ich sie im Vorrath habe.“

„Liebe?“ Die alte Dame fuhr auf. „Liebe,“ wiederholte sie, „Du meinst den kleinen Lieutenant? Was ist er gegen den Bennewitzer? Eine Null, ein Nichts – Salonverbeugungen macht er, und ein bischen geigen kann er – voilà tout.“

„Ich kenne ihn nur als einen liebenswürdigen Menschen,“ beharrte Moritz, „aber gleichviel, Mutter, auch das ist ein Mysterium. Die Liebe fragt nicht nach äußeren Dingen, nach Stellung, nach Liebenswürdigkeit; und dann – eine Null, Mutter? Gestehe doch offen, wenn Bernardi nun, nehmen wir zum Beispiel an, des Bennewitzer’s Sohn wäre, wie dann?“

„Dann wäre es eben etwas Anderes, mein Jung; hör’ auf mit dem sentimentalen Krims-Krams. Willst Du fahren?“ fragte sie kategorisch, „willst Du Else noch einmal Alles, Alles an’s Herz legen? Denn papperlapapp – ihren Bernardi kann sie doch nicht heirathen. Er hat sich sicher auch längst getröstet.“

„Was das Eine betrifft, so gebe ich Dir Recht, Mutter – heirathen kann er sie nicht, voraussichtlich nicht. Ob er sie vergessen schon, weiß ich nicht, glaube es aber nicht, denn heute früh brachte Rost’s Bursche in Bernardi’s Auftrage einen wunderschönen Kranz für das Grab. Hinfahren zu Else aber – nein, Mutter, ich habe Dir eben meine Ansicht gesagt, ich rede dem Kinde nicht zu.“

„Gut, so fahre ich!“

„Thue es nicht, Mütterchen; es ist nicht recht.“

„Soll sie mir später einmal Vorwürfe machen, wenn sie eine alte nervöse Gouvernante geworden ist?“ fragte sie zurück. „Ich thue meine Pflicht – basta!“

„Es ist umsonst, Mutter, besonders jetzt in ihrer furchtbaren Aufregung.“

„Hilf Dir selbst, so hilft Dir Gott!“ sagte sie. „Du bist noch immer der alte Phantast!“ Und sie ging in ihr Schlafzimmer.




Es war derselbe Weg, den sie gekommen, und den sie nun wieder zurücklegte im schwindelnden Tempo des Schnellzuges. Aber damals war Herbstnebel, und sie fuhr in den Abend hinein, das Herz voll seliger Erwartung, heute war’s ein Frühlingsmorgen, und die Sonne schien so erbarmungslos hell auf die Wagenpolster und zeigte jeden Riß und jede abgeschabte Stelle; der kleine Spiegel dort im Goldrahmen wies ihr ein blasses Gesicht und einen müden Zug um den Mund, und das war sie, war Else von Hegebach. Wie erschöpft lehnte sie sich in die Kissen, die Augen unverwandt auf die vorüberfliegende Landschaft gerichtet. Daß dort außen die Welt im vollsten Lenzeszauber lag – das sah sie nicht; es war so schauerlich düster und leer in der jungen Seele.

Nun hatte sie die Brücke abgebrochen hinter sich; nun hatte sie Niemand mehr, kein Herz, das sie verstand, nichts, nichts! Selbst Tante Lott hatte in einem wunderlichen, halb sentimentalen, halb jubilirenden Tone geschrieben, es sei doch ein großes Glück, das ihr am Rande des Grabes zu Theil geworden, ein beneidenswerthes Glück, solch Loos gezogen zu haben! – Glück! das nannten die Leute Glück! Was denn? Den Namen eines Mannes, sein Hab’ und Gut zu theilen, nicht sorgen zu brauchen für des Lebens tausendfache materielle Bedürfnisse – das war ihnen Glück! Und dafür sollte sie Alles geben, ihre Freiheit, ihr Denken, ihr Hoffen, sich selbst mit Leib und Seele? Es überkam sie ein nervöser Schauer, sie schloß die Augen. „Nimmermehr!“ sagte sie so laut, daß sie erschrak vor ihrer eignen Stimme und die alte Dame ihr gegenüber verwundert aufschaute.

Sie hielt die Wimpern gesenkt, sie merkte es nicht; sie sah nur einen dunkelrothen Schein vor ihren Augen, und in diesem Schein sich nähernd und wieder zurückweichend, sobald sie es erfassen wollte, das Bild eines dunkellockigen Männerkopfes mit schwermüthigen Augen und dem schwarzen Schnurrbärtchen über

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_210.jpg&oldid=- (Version vom 15.6.2023)