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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

die Pflicht vor Augen und den Zeiger der Uhr, der die Stunden der Arbeit weist. Vor Jahren kam auch einst eine liebe Schülerin weltmüde und matt mit krankem Herzen zurück und bat, ich solle sie behalten immer, immer. Es ging vortrefflich im Anfange, sie arbeitete, um die traurigen Gedanken zu vergessen; ihren zerstörten Nerven that die Ruhe und Regelmäßigkeit wohl. Dann kam die Zeit und heilte das wunde Herz, und die Gesundheit kam und lockte in das frische fröhliche Leben da draußen, immer sehnsüchtiger wurden die Blicke und eines Tages sagte sie: ‚Ich gehe, Schwester Beate, ich muß hinaus, hier kriecht man und draußen fliegt man!‘ Und sie ging. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden, ich erzähle Dir dies nur, um Dir klar zu machen, daß hier kein Ort ist Deine Wunden zu heilen, die die Welt geschlagen; wenn Du die Stellung annimmst, Else, so verpflichtest Du Dich auf wenigstens zwei Jahre. Ueberlege Dir das wohl.“

Sie lag noch immer auf den Knieen, und im tollen Wirbel begannen die Gedanken hinter ihrer Stirn zu kreisen; wie luftige duftige Gewänder schwebte es vor ihren Augen, wie rothe Rosen und flatternde Schleifen; sie hörte Töne in wiegenden wogenden Melodien und Lachen und Singen – das war das Leben, das war die Jugend. Und wie ein farbloses Bild sah sie plötzlich die Schulstube vor sich mit ihren kahlen Wänden; grau in grau, einförmig rollte sich das Leben ab – und sie war so jung! Wie Blei lasteten die letzten Worte der Schwester auf ihrer Seele. –

Horch! Da scholl vom Nebenzimmer ein Ton in das stille Gemach, goldhell und schwingend; eine Geige sang da drinnen, eine Geige! Sie schluchzte plötzlich wieder auf, und drückte den blonden Kopf in ihre verschränkten Arme, die noch auf dem Schooß der alten Frau ruhten. Da waren die Dornen der Purpurrosen, die wehen Dornen!

„Ich habe nichts mehr da draußen, nichts mehr, Schwester Beate!“ stammelte sie, „ich bleibe bei Euch.“

(Fortsetzung folgt.)

Monte-Carlo.[1]

Eine Schlange unter Rosen. 0 Von Woldemar Kaden.


Was wir zu einem kräftigen Trauerspiel brauchen, wir finden es hier Alles beisammen: Local, Personen, Requisiten.

Local: ein glänzend-luxuriöser Villenpalast inmitten eines üppigen, in Pracht des Südens wuchernden Gartens, der, von sonnig-heitern Wandelwegen durchzogen, eine Menge lauschiger sterbestiller Verstecke hinter Rosen-, Agaven- und Opuntiencactushecken birgt.

Personen: Charles III. Grimaldi, Fürst von Monaco und Besitzer einer Spielbank. Mr. Dupressoir, Director dieser Spielbank, ein hocheleganter, äußerst liebenswürdiger Mann. Cajus, Titius, Sempronius, seine Sclaven, als Croupiers verwendet. Baron X., Kaufmannsdiener Y., Graf Z., Unterkellner XX., Fürst YY., Schwindler ZZ. (letzterer unter polizeilicher Aufsicht stehend), gute Freunde und getreue Nachbarn in den Sälen des Casino. Marchesa A., weggelaufene Kammerjungfer B., Fürstin C., Signorina Silvia (unter polizeilicher Aufsicht), Baronin D., Vertreterinnen weiblicher Rollen, daher in feinster Toilette. Außerdem als Statisten und Erscheinungen: eine Anzahl magenkranker Dickwänste, abgelebter Schwindsüchtiger, internationaler Gimpel, pariser Cocotten, Polizeidiener, Todtengräber.

Requisiten: im ersten Act viel Schminke, viel Parfüm, wattirte Glieder, Champagner; im zweiten, dritten und vierten Act eine „Roulette“ und ein paar grüne Tische für „Trente-et-Quarante“, Geld, viel Geld, noch mehr Geld; im letzten Act: ein Pistol, Revolver, Dolch und Strick, eine Todtenbahre, ein paar Schaufeln.

Man sieht, die Tragödie verspricht interessant zu werden, und es thut mir nur leid, daß es mir an Raum fehlt, sie ihrem Inhalte nach geordnet zu erzählen, aber ein paar Scenen, wie wir sie allwöchentlich zwei-, auch dreimal in nizzardischen, sanremesischen, genuesischen, pariser und römischen Blättern finden, mögen dem Neugierigen eine Idee von den Vorgängen auf der Bühne von Monte-Carlo geben. Ich interessirte mich einstens für die Sache und sammelte, zum Zweck einer Kritik über die Hauptdarsteller, im Jahre 1883, also in der Zeit von zwölf Monaten, siebenundfünfzig solcher Scenen! Fachleute jedoch versichern mich, daß meine Sammlung durchaus incomplet sei. Ich lese nicht alle Zeitungen und – das Meiste wird vertuscht. Ich greife auf Zufall aus meiner Sammlung Einiges heraus. Da heißt es:

„17. Januar 1883. Eine Pariser Dame, die in den Spielsälen von Monte-Carlo ungeheure Summen verloren hatte, reiste nach Paris, um mit dem Reste ihres Vermögens, 36,000 Franken, zurückzukehren. Nachdem auch diese bis auf den letzten Centime verspielt waren, ersucht sie den Director der Bank um 2000 Franken zur Heimreise. Da ihr diese verweigert werden, zieht sie einen Revolver und erschießt sich vor den Augen des Bankpersonals.“

„13. Februar. Graf Martini, der den Rest seines einst ungeheuren Vermögens dem Spielteufel auf Monte-Carlo geopfert hatte, und dem sodann ein Proceß wegen Wechselfälschung bevorstand, wurde gestern auf dem Bahngleise hinter Mentone todt, in gräßlichster Weise verstümmelt, aufgefunden. Er hatte, einem hinterlassenen Briefe zufolge, seinem Leben freiwillig unter den Rädern des Nizzarder Morgenzuges ein Ende gemacht.“

„15. Juni. Am verflossenen Montag erstickte sich durch Kohlendämpfe in einem Zimmer des Hôtel de Londres auf Monte-Carlo ein gewisser Finzi aus Modena. Er war zwei Monate auf Monte-Carlo gewesen und hatte in dieser Zeit sein gesammtes Vermögen verloren. Am Sonntag Abend war er mit einem Sack in der Hand, der ohne Zweifel jene verhängnißvollen Kohlen enthielt, nach dem Hôtel zurückgekehrt, erst nach zwei Tagen merkte man im Hôtel seinen Tod. Herr Angeli, der gewandte Polizeicommissar des Fürsten Charles, wollte die Sache ohne Aufsehen abthun und war daran, die Papiere des Selbstmörders mit Beschlag zu belegen, woran er jedoch durch den italienischen Consul verhindert ward. Aus den Papieren ergiebt sich, daß Finzi in den letzten Tagen allein mehr als 100,000 Lire empfangen und verspielt, während er in den zwei Monaten gegen 500,000 Lire verspielt hatte.“

„16. Juni. Diesen Morgen fand man auf einem Gartenwege von Monte-Carlo den Leichnam eines eleganten jungen Mannes, der sich eine Kugel in das rechte Ohr geschossen hatte. Sein Name konnte bisher nicht ermittelt werden, da er keinerlei Papiere bei sich trug und die Namen aus der Wäsche entfernt hatte. Er hatte weder Geld noch Uhr bei sich.“

„31. Juli. San Remo. Ein Bürger unserer Stadt, Vater einer zahlreichen Familie, hatte seine Liegenschaften verkauft, um nach Amerika auszuwandern. Den Verkaufspreis in der Tasche eilt er nach Monte-Carlo, das Glück erst noch im Spiele zu versuchen. Sein Onkel, durch die plötzliche Abreise überrascht, von bangen Ahnungen gepeinigt, telegraphirt an die Direction des Casinos, jenem den Eintritt zu verwehren. Vergebens! Vorgestern fand man den Unglücklichen, schon halb in Verwesung übergegangen, an einem Olivenbaum oberhalb Ospodale erhängt. Das Geld war bis auf den letzten Soldo verloren.“

Soll ich noch mehr solcher Geschichten wiederholen? Genug, mehr als genug, in ihrer ewigen Gleichförmigkeit werden sie fast

  1. Monaco mit Monte-Carlo, 25 Minuten von Nizza, 20 Minuten von Mentone. Die Mehrzahl der Passagiere steigt nicht bei Station Monaco aus, sondern bei Station Monte-Carlo, welche unmittelbar unter dem weltberühmten „Casino“, zu deutsch Spielhölle, liegt, das man auf einer breiten, nach den Gärten aufsteigenden Freitreppe erreicht. Monte-Carlo, zu dem Fürstenthum Monaco gehörig, das auf dem Südhange der See-Alpen liegt, ist eine moderne, großartige und geniale Schöpfung durch seine Gärten, die in Terrassen bis zum Meer hinabsteigen. Malerische Aussichtspunkte, Promenaden unter Palmen, Camelien, Johannisbrodbäumen, Aloen, Rosen und vielen andern tropischen Bäumen in Menge. Das Casino ist das Stelldichein der höchsten aristokratischen Welt Europas und der tiefsten plebejischen Gauner. Die Spielhölle entfaltet hier ihre ganze unheimliche Macht: Theater, Concertsäle, venezianische Gondelfeste, glänzende Bälle, auserlesenes Orchester und Solovorträge der ersten Künstler der Welt, Conversationssäle, großartige Lesehallen – Alles dient nur als Folie dem Spielteufel. Wer sich eingehend unterrichten will, sehe des Verfassers „Riviera“, ein soeben bei Spemann in Stuttgart erscheinendes prachtvoll ausgestattetes Werk.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 214. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_214.jpg&oldid=- (Version vom 6.3.2024)