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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Die kleine Herrnhuterin saß der stattlichen Dame gegenüber in dem einfachen Zimmer. Sie hatten Beide rothe Gesichter, sie konnten sich nicht einigen. Frau von Ratenow hatte geglaubt Hülfstruppen anzuwerben, und stieß, wenn auch nicht auf einen Feind, so doch auf eine Macht, die gesonnen schien, völlig neutral bleiben zu wollen, und die, obgleich sie Manches, was die alte Dame in ihrer unentwegten Meinung betonte, als recht anerkannte, dennoch bedenklich zu Gunsten Else’s plaidirte. Als ob sie Moritz hörte, so antwortete ihr die kleine ruhige Person dort, nur vielleicht ein Bischen salbungsvoller.

„Nun hören Sie nur auf, Liebste,“ unterbrach sie endlich ungeduldig das sanfte Sprechen der Schwester, „wir verstehen uns doch nicht, das sehe ich ein. Sie mögen Recht haben von Ihrem Standpunkte aus, und Sie können ja auch schließlich meine und des Kindes Lage nicht beurtheilen. Sie drehen sich hier im ewigen Rundgange um Ihre einfachen Interessen, wir leben in der Welt, und die will ihr Recht, auch von Else.“

„Aber um den Preis des Friedens, der höher ist als alle Vernunft!“ wurde ihr erwidert.

Frau von Ratenow erhob sich.

„Ich möchte schlafen gehen,“ sagte sie, „ich hoffe, daß Sie wenigstens nichts gegen mein Vorhaben thun. Else muß morgen mit heim, sie muß.“

„Gewiß, Frau Baronin, Else soll selbst entscheiden.“

„Ich denke; ich werde den Trotzkopf wohl unterkriegen,“ setzte die alte Dame noch hinzu. „Aber, sagen Sie, meine Beste, haben Sie Arzt und Apotheker im Orte?“

„Gewiß! Fühlen Sie sich unwohl, Frau Baronin?“

„Eh, es wird vorübergehen, ’s ist nur für alle Fälle; zuweilen kommt ’mal ein Hexenschuß und macht mich unfähig zu jeder Bewegung, und es war ein gräßlicher Zug in dem Coupé. Na, wollen ’s Beste hoffen.“

„Aber da will ich doch gleich ein wenig flüchtiges Liniment –“

„Ja nicht, meine Beste, erst im Nothfall. Ich gebe nichts auf solche Mittel – zu Hause darf kein Doctor an mich heran, mein Schäfer ist mir zuverlässiger; er kann böten und streichen und besprechen. – Was gucken Sie mich denn so erstaunt an? ’s ist so, Liebste! – Die Else will ich nicht mehr sehen, ich habe gerade genug Aufregung heute. Sagen Sie ihr, daß sie morgen in mein Zimmer kommt – die andere Kleine ist ja wohl bei ihr? Na, denn gute Nacht.“

Sie waren an der Schlafkammer der alten Dame angelangt, und diese machte bei den letzten Worten ohne Weiteres die Thür vor der Nase der kleinen Herrnhuterin zu. Schwester Beate hörte sie nur noch einmal aufstöhnen, als habe sie Schmerzen und recke die Glieder. Sie schüttelte den Kopf und ging eine Thür weiter.

Fräulein Lili hatte am Tischchen zwischen den Fenstern Platz genommen, aß Butterbrod und weiche Eier und trank ein Glas Milch mit dem ganzen köstlichen Appetit der Jugend. Else saß mit verweinten Augen daneben und betrachtete, ohne an der Mahlzeit theilzunehmen, die Mücke, die so gar eilfertig war, sich die Flügel an der bescheidenen Stearinkerze zu verbrennen. Das zierliche Figürchen Lili’s war elastisch vom Stuhle emporgesprungen, als Schwester Beate eintrat, und sie machte einen Knix vor der einfachen ernsten Frau dort, als stehe sie vor einer regierenden Fürstin.

„Ich komme, um den Damen eine gute Nacht zu wünschen,“ sagte diese. „Morgen früh will Deine Tante Dich sprechen, Elisabeth; sie hofft, Du begleitest sie heim. Ich lege Dir nochmals an das Herz, überlege Deinen Entschluß mit Beten. Gute Nacht, meine lieben Kinder, der Herr behüte Euch!“

Lili sah ihr nach mit großen Augen, dann wandte sie sich zu Else, die noch trüber als vorhin ausschaute.

„Du, Else, ist es wahr – giebt es hier ein Gebäck, das man Bruder- und Schwesterherzen nennt und, wenn der Teig extra gut, sogar gerührte Bruder- und Schwesterherzen?“ Und sie setzte sich hin und aß seelenvergnügt weiter. „Bitte, bitte, laß mir morgen früh ein Paar zum Kaffee bringen, und zwar ‚gerührte‘; es fiel mir eben so ein.“

Ueber das traurige Gesicht Elsens huschte ein Lächeln. „Du bist unverbesserlich, Lili!“ sagte sie.

„Ach, Gott sei Dank,“ rief das kleine bewegliche Mädchen, „Du kannst noch lachen! Ach, Else, Else,“ und sie knieete vor dem Mädchen nieder, „Ihr seid Alle so fromme Leute und habt nicht ein Bischen fröhliches Gottvertrauen! Und ich weiß es doch, es muß noch gut werden mit Dir, ich weiß es zu genau.“

„Du weißt es?“ fragte Else.

„Ja.“

„Woher denn?“

„Das kann ich nicht definiren; es liegt in der Luft, in der Frühlingsluft vielleicht, in dem Blühen und Wachsen da draußen, die Vögel singen es und das Wasser rauscht’s. Nun, armes Herz, vergiß die Qual, es muß sich Alles, Alles wenden!“

Else schüttelte den Kopf und sah in das frische Mädchengesicht, dessen dunkle Augen in Thränen schimmerten.

„Du wunderst Dich über mich, Else? Ich bin Dir immer so oberflächlich erschienen? Ich sage Dir ganz offen, ich gab mir keine Mühe um Dich; Du warst so bodenlos langweilig in Deinem Schmerz um den Ewiggeliebten, längst Verlornen, endlich – und so weiter; Du warst so schrecklich passiv. Wie ich Dich aber so blaß sah und so vergrämt trotz des bräutlichen Glückes, das sie Alle so bis in den Himmel priesen, da dauertest Dü mich, und wie Du gestern davon gelaufen bist, da hattest Du auf einmal mein ganzes Herz gewonnen – das ist doch noch Etwas, Else, das thut nicht eine Jede; hundert Andere hätten sich ruhig die Schlinge zuziehen lassen und wären Frau von Hegebach geworden. Aber nun verlaß Dich auf mich, Else, ich helfe Dir – und Moritz hilft Dir, sogar Frieda ist Dir nicht mehr ganz so böse.“

„War sie es überhaupt?“ fragte Else ganz erstaunt.

„Aber Kind,“ rief Lili, „hast Du denn ein Brett vor dem Kopfe gehabt? Böse! – Rasend war sie, rasend eifersüchtig auf Dich, sobald Moritz nur Deinen Namen nannte. Der Arme hat schlimme Zeiten gehabt.“

Else’s blasses Gesicht war purpurn erglüht. Mit einem Schlage stand das Benehmen der jungen Frau, das ihr immer so räthselhaft gewesen, in grellem Lichte vor den Augen, und auch Moritzens scheues Ausweichen. Sie stöhnte schmerzlich auf: „Auch das noch!“

„Beruhige Dich, süßes Kind, es war eine rührende Versöhnungsscene gestern zwischen dem Ehepaare; Frieda weinte wie ein Schulkind, und Moritz hat immerzu gefragt: ‚Siehst Du es ein, Frieda, daß Du thöricht warst?‘ Und sie hat pater peccavi gesagt, so sanft, wie ich es ihr nie zugetraut hätte. Und, nicht wahr, Else, Du kommst mit morgen, Du bleibst nicht hier? es muß ja schauerlich langweilig sein zwischen all den gerührten Bruder- und Schwesterherzen! Sieh, ich denke so: Der Bennewitzer hat’s nun schon gemerkt, und Moritz wird ihm, wenn er fragt, die volle Wahrheit sagen, und dann ist das Verhältniß unhaltbar. Komm mit, Else, liebe Else.“

„Nein,“ sagte das Mädchen sich erhebend, „niemals! Ich kann nicht.“

Lili wollte antworten, da kam krachend ein schwerer Gegenstand an die Nebenthür geflogen.

„Alte Leute wollen schlafen!“ rief Frau von Ratenow mit Donnerstimme, „hört auf zu schwatzen, ich bin todmüde!“

Else ging schweigend zu Bett; Lili kicherte noch fort und fort. Das resolute Wesen der Tante war ein unerschöpflicher Quell der Heiterkeit für sie.

In der Nacht fuhr sie empor; der Mond schien hell in’s Zimmer und aus dem Bette nebenan drang leises Schluchzen herüber. Sie berührte mit der Hand die weichen blonden Haare, die über das weiße Kissen verstreut lagen. „Else, Else, weinst Du?“ fragte sie leise. Da ward es still. –

Frau von Ratenow war gerade aufgewacht am andern Morgen, da kam ein expresser Brief; die kleine Vorsteherin legte ihn selbst in ihre Hände.

„Barmherziger, des Bennewitzers Handschrift!“ Woher wußte er, daß sie hier? Ach Gott, und ihr war so schwer in allen Gliedern; mühsam setzte sie sich ein wenig hoch. „Bitte, Schwester Beate, meine Brille – ich kann mich nicht rühren.“

Die kleine Herrnhuterin überreichte ihr das Gewünschte und ließ sie allein. Es wurde still im Zimmer, man hörte nur das leise Knistern des Papiers in der Hand der alten Dame.

Es waren nur wenige Worte, die sie las, aber sie machten das Gesicht der Lesenden blaß bis in die Lippen. Sie hielt plötzlich die Hand vor die Augen, ihr schwindelte. Alles umsonst! Alles vorüber! –

„Lili!“ rief sie, ihre Stimme klang wie ein Aechzen. Das junge Mädchen kam eilig, noch im Frisirmantel mit aufgelöstem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 240. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_240.jpg&oldid=- (Version vom 13.11.2020)