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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Ein armes Mädchen.

Von0 W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Acht Tage später fuhr ein Herr mit dem Schnellzuge an dem kleinen einsamen Herrnhuter Dörfchen vorüber. Der Train hielt nicht an, aber der junge Mann stand am Fenster des Coupé’s und sah so aufmerksam dorthin, als wäre es die schönste Stelle des grünen Thüringerlandes, das er eben durcheilte. Dann setzte er sich wieder, schob einen Violinkasten etwas bei Seite und zog seine Brieftasche hervor, entnahm ihr einen Brief und begann zu lesen:

 „Mein lieber Bernardi!
Du hast mir die Pistole auf die Brust gesetzt, und obgleich ich nicht gern Briefe schreibe, am wenigsten gern Briefe mit sentimentalem Inhalt, so will ich es doch versuchen, wenn es Dich beruhigen kann, wie Du sagst.

Viel Beruhigendes ist freilich nicht an der Sache, für Dich nämlich. Ich gestehe sogar, daß mein abgebrühtes Soldatenherz ein klein wenig gerührt wurde, als ich eines gewissen Ballabends gedachte, an dem ich Dir einen vernünftigen Rathschluß zu geben mich berufen fühlte.

Es ist wirklich so – die kleine Else von Hegebach verließ eines Morgens in aller Frühe ihr warmes Nestchen auf der Burg, die sorgsamste der Tanten und einen väterlichen Bräutigam, um in der Stille einer Herrnhutercolonie über – ich weiß nicht was, vielleicht weißt Du es – zu weinen. Alle vernünftig denkenden Leute, und Du weißt, wie viele dergleichen zu bergen unsere Mauern das Glück haben, zucken die Schultern und lächeln. Es ist so gar nicht mehr Fashion heutzutage, vor einem reichen Freier Reißaus zu nehmen; der Roman fängt ja jetzt erst jenseits des Altares an, und dann ist er um so pikanter. Das kleine resolute Mädchen hat sich die allerhöchste Ungnade der alten Frau von Ratenow zugezogen, die in ihrer praktischen Lebensauffassung an dem gesunden Verstande ihres Pflegekindes gerechtfertigte Zweifel hegt. Sie selbst ist todtkrank von ihrer Verfolgungstour zurückgekehrt; man hat sie aus dem Wagen in das Bette getragen. Heutigen Nachrichten zufolge geht es noch immer nicht gut.

Daß unsere Geselligkeit, besonders die kleinen Causerien der Damenwelt, ausreichenden Stoff zum Medisiren haben, brauche ich Dich nicht zu versichern; daß der Name ‚Bernardi‘ vielfach mit genannt wird, ahnest Du vielleicht. Und leider wohl mit Recht. ‚Das ist’s, was mir die Stirne trübt,‘ sagt ein Dichter. Denn was nun? Es ist schade um das hübsche Mädchen; wen aber, um Gotteswillen, soll ein Vorwurf treffen? Es ist nicht Deine und nicht ihre Schuld. Am Gelde hängt, zum Gelde drängt doch Alles! Warum bist Du nicht ein Reichsbaron mit einem halben Dutzend Gütern? Warum braucht der Mensch soviel zu seinem jammervollen Dasein? Ja, warum? Ich will aufhören zu fragen, ich werde wahrhaftig sentimental. Das kleine Mädchen mit den suchenden braunen Augen will mir nicht aus dem Sinn; Du hättest sie erst am Begräbnißtage sehen sollen.

Denke nicht, daß ich bereue Dir damals die Wahrheit gesagt zu haben, gewiß nicht; es war meine Pflicht. Sie wird ja hoffentlich vergessen, wenn auch schwerer als Andere. Und laß Du den Kopf nicht hängen; Du kannst ihr nicht helfen, man ist der Sclave seiner Verhältnisse.

Lebewohl, Bernardi.

Dein von Rost.“ 

Wie oft der Brief schon gelesen war, wie oft! Nun wurde er wieder in die Tasche gelegt, und der Besitzer dieser Tasche saß und schaute auf einen Fleck, als könne er dort die Antwort finden auf die „Warum?“, die in dem Schreiben gefragt waren. Eine Unzahl von Plänen ging abermals durch des jungen Mannes Kopf; es war, als knirsche er mit den Zähnen im ohnmächtigen Zorn, „der Sclave seiner Verhältnisse“!

Der Zug sauste an einem Wärterhause vorbei, am Waldesrand; in der Maiensonne, unter zartbelaubten Birken, saß auf der Thürschwelle ein junges Weib und hielt ein Kind im Schooß; der Mann stand salutirend an der Barrière, und die Blicke der Frau sahen lachend auf die vorüberfliegende Wagenreihe. Es überkam ihn auf einmal ein bitterer Neid. Die Kinder des Volkes, die lieben sich und heirathen sich und sind glücklich; wenn sie nichts zu essen haben, hungern sie mit einander, wie sie mit einander arbeiten. Und warum nicht? Else hätte auch mit ihm gearbeitet und mit ihm gehungert, das hatte er in den lieben Augen gelesen. Lächerlich! Hinter den Kindern der Vornehmen schleppt es hinterdrein, das schwere samtene Kleid der Standespflichten, das aus tausend Lappen und Läppchen zusammengesetzt ist zu einem prächtigen Ganzen, das den Reichen so unvergleichlich wohlthuend und bequem dünkt und den Unbemittelten niederdrückt, daß er es nur mit Müh und Noth auf seinen Schultern festhält, und ohne welches man sich nicht sehen lassen darf in jenen Kreisen – ja nicht! Wie viel Elend und Kummer, wie viel getäuschtes Hoffen, wie viel Entsagung bedeckt es!

Freilich, es ist so nöthig; ohne dieses Kleid ist die Gesellschaft nicht denkbar, es gehört zum Ganzen, es wäre lächerlich dies zu bestreiten. Die Meisten tragen es ja auch leicht, die Wenigen, die darunter zu ersticken meinen – pah! Nun, sie ersticken eben, oder sie werden’s auch schließlich gewohnt. Else wird sich trösten, und für ihn – es kommt vielleicht bald ein Krieg.

„Else wird sich nicht trösten!“ sagte eine innere Stimme da. „Else wird ihre Jugend vertrauern und ein einsames, verbittertes altes Mädchen werden, das sonnige reizende Geschöpf.“ Und er dachte weiter, fast fieberhaft, wie alle Tage bisher. Ja, was dann? Sollte er einen andern Beruf wählen?

Da stand plötzlich die Frau von Ratenow vor ihm, und die Funken ihrer Brillantbroche spielten zu ihm herüber, wie an jenem Abend.

„Glauben Sie denn, daß man in einem andern Stande von der Luft lebt? Und glauben Sie, daß Sie sich befriedigt fühlen, wenn Sie den bunten Rock ausziehen?“

Und nun rechnete er sich vor, wie schon unzählige Male: Kaufmann – ohne Capital? Oekonom – um zeitlebens Inspector zu bleiben? Künstler – wollte er das Heer Mittelmäßiger vermehren, die in sich selbst zusammengedrückt sind, weil sie fühlen, sie erreichen das Ziel nimmer, das sie gewollt? Erbarmungslos klang es, und dennoch wahr!

Am liebsten nähme er den Abschied und ginge nach drüben, aber sein alter Vater und die Mutter, die sich so jeden Pfennig abgedarbt, um seinen brennenden Wunsch zu erfüllen, Soldat zu werden!

Fahrt wohl, ihr Träume, fahr wohl, Else! Der Sclave seiner Verhältnisse – was kann ein Sclave thun?

„Er ist noch verdrießlicher wiedergekommen, als er ging,“ sagten die Cameraden, als sie am andern Morgen nach dem Dienst plaudernd die Straße entlang schritten, um in ihr Stammlocal zu gehen. „Närrischer Kerl! Er klaubt wahrhaftig noch immer an seiner unglücklichen Liebe,“ fügte der Eine lächelnd hinzu, „unglaublich heutzutage!“




Es war wiederum Herbst. Im Burggarten trieben die Winde ihr Spiel mit den Blättern, und purpurroth hingen die Reben des wilden Weines um die Veranda. Im Zimmer der alten Frau von Ratenow flackerte ein leichtes Kaminfeuer, und die Bewohnerin saß, aufrecht wie sonst, am Fenster und schaute strickend über den Hof hinweg. Das Gesicht war nicht mehr so voll, sie hatte gealtert; die fatale Krankheit im Frühjahre war nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Langsam, langsam hatte sie sich erholt. Sie war dann im Sommer in Baden-Baden gewesen, um sich dort grenzenlos heim zu sehnen. Frieda und Lili, die sie begleiteten – Moritz war zu Hause geblieben – hatten gänzlich freien Willen gehabt, des Tages dreimal die Toilette zu wechseln, Brunnenpromenaden und Nachmittagspartien mit den schnell geschlossenen Bekanntschaften zu machen. Sie war schon froh, wenn sie allein im Garten vor dem Hause saß und nichts von dem albernen Trubel und Lärm sah und hörte.

Zu Hause ging es besser. Tante Lott war wieder da, und nun konnte sie sich aussprechen, wenn einmal die Rede auf Else kam; so recht ordentlich. Und Tante Lott war unermüdlich, dies Thema immer und immer wieder anzuschlagen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 256. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_256.jpg&oldid=- (Version vom 4.1.2021)