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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


Dann ging sie quer durch den Garten auf das Hintergebäude zu, erstieg das knarrende Treppchen, und nun war sie allein in ihrer Stube, und die liebste Stunde des Tages war für sie gekommen. Da las sie oder schrieb Briefe, oder sie saß am Fenster und schaute in die Ferne und dachte –. Ja, an was denkt man wohl, wenn man allein ist und nebenan eine Geige singt, in alten süßen Melodien? Und Miß Brown, die englische Lehrerin, pflegte immer um diese Zeit eine Stunde zu phantasiren auf der Violine. Zuweilen konnte es Else nicht hören; das waren die Tage, wo Herzeleid und Sehnsucht sie mit aller Gewalt packten; die Tage, wo sie meinte, sie könne das Leben so nicht ertragen für immer und immer. Dann brannte der arme Kopf, und dann brannte das Herz und die Augen thaten weh vom trostlosen Weinen. Und sie mußte sich fragen: warum denn nur sie kein Glück habe, so gar kein Glück?

Dann floh sie die Geigentöne und lief in Sturm und Regen hinaus, wer weiß wie weit! Oder sie flüchtete zu Schwester Beate und saß dort stundenlang und stumm.

„Ich kann die Geige nicht hören, Schwester Beate.“

„Aber, Elisabeth, ich gebe Dir ein anderes Zimmer!“

„Nein, ja nicht, ja nicht!“ wehrte sie dann ab.

Heute stand sie, wie in Gedanken versunken, vor der einfachen Commode, deren obersten Kasten sie herausgezogen hatte. Nun nahm sie mehrere Papiere zur Hand und setzte sich damit an das Fenster. Sie mußte sie immer und immer wieder lesen, die Briefe, die sie vor ungefähr acht Wochen erhalten und die ihr so viel zu denken gaben:

 „Liebe Else!

Du weißt, daß ich nicht meinetwegen böse auf Dich war, sondern lediglich, weil Du Dir selbst etwas zufügtest, und zwar nichts Gutes. Na, das ist nicht mehr zu ändern, Du mußt es tragen, was Du Dir aufgepackt hast, und Gott wird ja wohl Deine Wege weiter in Gnaden lenken, wenngleich ich nicht fromm genug bin, zu glauben, daß unser ganzer Lebensweg von Gottes Hand schon fertig aufgezeichnet besteht, wie ein Bauplan etwa, wenn wir noch in den Windeln liegen. –

Das ist Türkenglaube!

Ich sage, Gott gab uns Verstand zu prüfen und zu handeln. Du hast ihn nicht richtig gebraucht, Deinen Verstand, sondern Dich von Deinem recht thörichten Herzen unterkriegen lassen – die Folgen sind schlimmer, als ich es gedacht; doch still davon, Du wirst es noch zeitig genug erfahren, und Reue wird Dir nicht erspart bleiben –.

Nun bitte ich Dich, Else, komm wieder zurück! Du sollst die Heimath Deiner Jugend nicht verlieren. Mach’ Dich frei von den Verpflichtungen dort; Du bist auch hier nützlich, und es ist doch immer kein fremdes Brod, das bekanntlich sieben Krusten hat.

Ich denke, Du kommst bald; die Winterabende sind lang und ich möchte gern, daß Du mir wieder vorliest wie im vorigen Jahre. Gott befohlen!
 Deine allezeit treu gesinnte
 Tante Ratenow.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein!“ sagte sie halblaut und legte den Brief zur Seite. „Ich bin doch kein dressirter Pudel, der über den Stock springt, wenn ihm Jemand denselben vorhält? Nein!“

Sie saß noch ein Weilchen, dann griff sie zu dem zweiten Briefe; es war Lili’s kritzlige Handschrift. Sie überschlug die Beschreibung von Annie Cramm’s Hochzeit, und ihre Augen blieben an dem Schlusse des Briefes hängen:

„Es kam auch ein Telegramm von Bernardi,“ las sie. „Aber nun staune, Else: der neugebackene Ehemann scheint nämlich Brüderschaft mit dem Bennewitzer getrunken zu haben; er ließ plötzlich seine theure Gattin im Stiche und setzte sich zu ihm, gerade mir gegenüber. Sie schwatzten höchst angelegentlich zusammen, und zwar sehr unschicklicher Weise ziemlich leise. Ich konnte während der Zeit nicht einen Blick bei dem Bennewitzer anbringen; – schließlich stießen sie mit einander an und trennten sich. Der Bennewitzer war nach Tische verschwunden und soll, wie ich später erfuhr, bei Tante Ratenow gesessen haben -. Ja, siehst Du, Else, und nun kommt, was ich Dir eigentlich sagen wollte: Ich habe keine Hoffnung mehr, denn der Bennewitzer will sich ‚zur Ruhe‘ setzen. Weißt Du, was das heißt in diesem Falle? Er handelt bereits in einem Möbelgeschäft um einen Großvaterstuhl, er wird nicht mehr heirathen! Er wird sich einen Adoptivsohn annehmen!

Deine Tante sagt, es wäre recht so, aber innerlich ist sie wüthend, ich sehe es ihr an; denn, Schatz, sie hatte es doch nun einmal darauf abgesehen, Du solltest auf Bennewitz residiren. Und daß sie Dich in D. ließ, Dir nicht verzeihen wollte, na – das war so ein letztes Mittel, sie wollte Dich durch Hunger zähmen! So stehen die Sachen –.

Ach, liebste Else, ich furchte, wir sterben Beide als alte Jungfern, und ich habe so gar kein Talent dazu, wie Tante Lott; die ist geborne alte Jungfer –.“

Ja, das war es auch! Tante Ratenow hatte sie zähmen wollen; nun machte der Bennewitzer selbst einen dicken Strich durch die Rechnung, Gott sei Dank! Nein, nein, Tante hatte es immer gut mit ihr gemeint, aber zurückgehen zu ihr – nimmermehr! Sie dachte an alle die durchwachten Nächte, an die qualvollen Stunden, die sie dort verbracht, und dann die Erinnerung – „Nein!“ – Sie faltete ein drittes Blatt auseinander, das hatte sie geschrieben, es war das Concept der Antwort an Tante Ratenow:

 „Meine liebe, hochverehrte Tante!

Nimm vielen Dank für Deine gütigen Worte, die mich unendlich erfreuten und beruhigten. Es war mir eine schwere Last, Dein Mißfallen erregt zu haben, und nur das Bewußtsein, daß ich das Rechte that, hielt mich in allen den traurigen Tagen aufrecht, die Deiner Abreise von hier gefolgt sind. Nimm herzlichen Dank für Deine Liebe, die Du mir immer bewiesen, und heute von Neuem mir zu Theil werden läßt. Wie würde ich je vergessen, was Du für mich gethan! Aber halte mich nicht für trotzig und undankbar – ich bleibe hier, ich fühle, daß Arbeit das Einzige ist, was mich über alle die schmerzlichen Erfahrungen tröstet, die ich in dem letzten Jahre machen mußte –.“

Sie ließ das Briefblatt sinken. Ob sie nicht zu bitter geschrieben? fragte sie sich. Aber wer pflückt denn süße Frucht von einem zerschlagenen kranken Baume? Es war ihr unwillkürlich so aus der Feder geflossen.

Sie packte die Briefe wieder zusammen und saß nun ganz ruhig. Nebenan klang die Geige; Miß Brown schien sehr wehmüthig aufgelegt heute, sie hatte begonnen mit „home, sweet home“. – ilome^. -

Sie war ein langes, rothblondes sommersprossiges Wesen und hatte Augen, in denen ein Ausdruck lag, wie beständiges Heimweh. Es seien ihre liebsten Stunden, wenn sie im Dämmern Geige spielen könne, hatte sie Else mitgetheilt, und Else schloß die Augen und träumte bei den Klängen von einer andern Hand, die so meisterhaft den Bogen führte, von Tönen, die noch unendlich viel süßer und weicher waren.

Wie das Alles lebendig wurde! Da war der ungarische Tanz, und jetzt – wie kam die Engländerin zu dem deutschen Volksliede?

„Wer ist so verlassen wie ich auf der Welt?
Nicht Vater noch Mutter, kein Gut und kein Geld,
Nichts weiter mehr hab’ ich – –“

Nun mußte sie wieder weinen; wo sie nur herkamen, alle die Thränen?

Jetzt stieg da draußen Jemand die Treppe herauf – wer konnte nur so poltern und anstoßen; wahrscheinlich brannte die Lampe noch nicht auf dem Flure; nun ging man an ihrer Thür vorüber, recht schwerfällig und tappend, wie ein Männertritt. Nebenan wurde geklopft, das Geigenspiel verstummte. „Come in!“ hörte sie Miß Brown rufen, und gleich darauf dear me und eine tiefe Männerstimme, welche wie entschuldigend um Auskunft bat.

„Bitte, mein Herr, treten Sie gefälligst näher,“ sprach sie in gebrochenem Deutsch.

Else stand plötzlich in der geöffneten Stubenthür und suchte die tiefe Dämmerung mit den Augen zu durchdringen, die Hände fest auf das klopfende Herz gedrückt. „Moritz?“ fragte sie leise und zweifelnd.

(Schluß folgt.)




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