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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

wurde sie um Wiederholung ihres Besuches gebeten. Um ihm nicht lästig zu fallen, habe sie gezögert wiederzukommen, – da habe der Dichter sie durch ein dringliches Billet (in ihrem Büchlein abgedruckt) eingeladen.

Und nun lasse ich Meißner, welcher die „Mouche“ besser gekannt, als selbst Heine, über das Verhältniß Zeugniß ablegen:

„Sie kam wieder und der Kranke konnte endlich ohne sie kaum einen Tag bestehen. Wohl an hundert Blätter[1] liegen von Heine’s Hand mit Bleistift geschrieben vor mir, die er aus der Einsamkeit seines Krankenzimmers an das Mädchen sandte, um die beinahe Unentbehrliche herbeizurufen. So wie der Gefangene das Vögelchen liebt, das am Simse seines Fensters zu sitzen pflegt, und es zärtlich füttert, um es bald wieder herbeizulocken und ihm die Stelle angenehm zu machen, damit es den grünen luftigen Wald von Zeit zu Zeit vergesse, so überhäuft auch Heine seine Freundin und Gesellschafterin mit kleinen Geschenken, welche sinnvoll sein Wohlwollen in hundert Gestalten ausdrücken und strengt beinahe täglich seine des Schreibens kaum fähige Hand an, kleine Briefchen hinzuwerfen, die unaufhörlich mit flehenden Schmeichelstimmen zu neuen Besuchen auffordern. Sieht man die großen, zierlichen, edeln Schriftzüge, so kann man es kaum glauben, daß sie von der welken Hand eines gebrochenen Organismus herrühren, und liest man den Sinn, den sie verdolmetschen, so kann man sich über die tiefe, unausrottbare Lebensenergie nicht genug wundern.“ –

Meißner fährt weiterhin fort: „Diese Briefe werden nie die Oeffentlichkeit sehen, der Name des Mädchens ist ein Geheimniß. Ein bizarrer Zufall führte mich erst nach Heine’s Tode mit deren Besitzerin zusammen, wenn man es einen Zufall nennen kann, eine Bekanntschaft, die seit neun Jahren in den Wogen des Lebens untergegangen zu sein schien, zu erneuern.“

Die Briefe haben inzwischen die Oeffentlichkeit gesehen, und auch der Name des Mädchens ist kein Geheimniß mehr. Frau Camilla Selden[WS 1] lebt gegenwärtig als Lehrerin der deutschen Sprache an einer staatlichen Schule in Rouen.

Der Name „die Mouche“ wurde ihr von Heine in einer scherzenden Laune beigelegt, weil sie ihre Briefe mit einem Siegelring siegelte, welcher eine zierliche kleine Fliege im Wappen führte.

Heine war um die Zeit seiner Bekanntschaft mit der Mouche ohne ständigen Secretär. So bat er sie – oder sie erbot sich dazu –, ihm einstweilen bei der mühseligen Erledigung seiner Correspondenz behülflich zu sein. Ihre Handschrift gefiel ihm zwar nicht sehr, wie die Mouche selbst erzählt; manchmal ließ er sich dazu herbei, ihr die großen Buchstaben, die sie besonders nachlässig schrieb, in seiner erstaunlich schönen, geradezu kalligraphischen Schreibmanier vorzumalen. Die Mouche hat die Adressen auf die Briefe an Heine’s Mutter zu schreiben gehabt, an welche der liebende Sohn meist eigenhändig schrieb, um ihr seine Krankheit zu verheimlichen. Diese rührende Täuschung hat er bis zuletzt durchgeführt, ohne falsche Sentimentalität; wozu der alten Frau von seiner Krankheit und seinen Schmerzen Kunde geben? – „eine Mutter glaubt ohnehin nicht, daß ihr Kind so leiden könne“. Ließ er doch in den für seine Mutter bestimmten Exemplaren seiner letzten Gedichte und anderer Schriften die Stellen entfernen, welche ihr seinen körperlichen Zustand hätten enthüllen müssen!

Ferner half ihm die Mouche bei der Durchsicht der französischen Ausgabe der „Reisebilder“, wobei ihre vollkommene Beherrschung des Französischen dem zeitlebens in der fremden Sprache niemals ganz heimischen Dichter sehr gut zu Statten kam. Auch die von andrer Hand (St. René-Taillandier) herrührende französische Uebersetzung – natürlich in Prosa – der Gedichte des „Neuen Frühlings“ hat die Mouche mit Heine zusammen durchgesehen, und mit ihren Verbesserungen ist die Uebersetzung in der „Revue des Deux-Mondes“ zuerst erschienen.

An die Vorlesungen aus deutschen und französischen Dichtern, welche die Mouche Heine machte, knüpfen sich oft sehr interessante Bemerkungen des Dichters. Leider ist das Gedächtniß der Mouche für diese werthvollsten Dinge jetzt nach achtundzwanzig Jahren recht schwach; was sie uns in ihrem Buche davon erzählt, ist herzlich wenig, zumal wenn man es mit den „Erinnerungen“ vergleicht, welche Alfred Meißner unter dem frischen Eindruck des Gehörten schon 1856 erscheinen ließ.

Von Heine’s Memoiren hatte die Mouche nichts gelesen. Wohl aber hatte sie ihn zuweilen bei der Arbeit an den Memoiren getroffen. Wie sehr Heine die Vollendung derselben am Herzen gelegen, dafür legt auch folgende Stelle des Buches der Mouche Zeugniß ab: „Es geht schlecht mit ihm; nur die Energie seines Willens und der leidenschaftliche Wunsch, die Abfassung der Memoiren zu beendigen, halten ihn noch aufrecht. – Wie oft fand ich Heine, wie er die großen Bogen weißen Papiers, die vor ihm ausgebreitet lagen, mit den kraftvollen Schriftzügen bedeckte, deren äußere Erscheinung schon die Kühnheit und Klarheit seines Gedankens offenbarte. Der Bleistift, der mit fieberhafter Eile über die weißen Blätter eilte, nahm zwischen den abgezehrten Fingern des Kranken die Starrheit einer tödtlichen Waffe an.“ Von dem Inhalt aber dieser Memoiren hat sie so wenig wie irgend Jemand um jene Zeit etwas erfahren.

Auch einige Gedichte hat Heine seiner „freundlich sumsenden Mouche“ gewidmet. Bei aller Gluth der Sprache kann man ihnen sicherlich nicht den Titel von „Liebesgedichten“ beilegen. Da ist zunächst das Gedicht: „Dich fesselt mein Gedankenbann“ mit seinem zwischen tiefem Ernst und ausgelassener Tollheit abwechselnden Inhalt. Dann das ergreifende Gedicht: „Die Wahlverlobten“ mit seinem hoffnungslosen Schluß:

„Der Willkomm ist zu gleicher Zeit
Ein Lebewohl! Wir scheiden heut
Auf immerdar. Kein Wiedersehn
Giebt es für uns in Himmelshöh’n.
Die Schönheit ist dem Staub verfallen.[WS 2]
Viel anders ist es mit Poeten,
Die kann der Tod nicht gänzlich tödten.
Uns trifft nicht weltliche Vernichtung,
Wir leben fort im Land der Dichtung,
In Avalun, dem Feenreiche –
Leb’ wohl auf ewig, schöne Leiche!“

Eines der letzten Gedichte Heine’s – nach Meißner’s Ansicht wenige Wochen vor seinem Tode geschrieben – ist ausdrücklich mit der Ueberschrift: „Für die Mouche“ versehen (Band XVIII, S. 319). Einige Strophen dieses Gedichtes sind außerordentlich stimmungsvoll, wie Töne von jenseits des Grabes –:

„Zu Häupten aber meiner Ruhestätt’
Stand eine Blume, räthselhaft gestaltet,
Die Blätter schwefelgelb und violett,
Doch milder[WS 3] Liebreiz in der Blume waltet.

Das Volk nennt sie die Blum’ der Passion –

Solch eine Blum’ an meinem Grabe stand,
Und über meinen Leichnam niederbeugend,
Wie Frauentrauer, küßt sie mir die Hand,
Küßt Stirne mir und Augen, trostlos schweigend.
000000000

Geschlossen war mein Aug’, doch angeblickt
Hat meine Seel’ beständig dein Gesichte,
Du sahst mich an, beseligt und verzückt
Und geisterhaft beglänzt vom Mondenlichte.

Wir sprachen nicht, jedoch mein Herz vernahm,
Was du verschwiegen dachtest im Gemüthe –
Das ausgesproch’ne Wort ist ohne Scham,
Das Schweigen ist der Liebe keusche Blüthe.“

Denen endlich, welche den holden Glauben an eine „letzte Liebe“ Heine’s für die Mouche trotz alledem hegen sollten, empfehle ich die Lectüre des Gedichtes:

„Worte! Worte!0 Keine Thaten!“

worin Heine nach wohlbekannter Manier sich und ihr jede Illusion benimmt, falls überhaupt eine solche bestanden.

Ich brauche wohl kaum noch hinzuzufügen, daß Frau Camilla Selden selbst zu viel Tact besitzt, um sich jetzt in ihren Gedenkblättern an Heine irgendwelche falsche Aureole um’s Haupt zu dichten. Sie ist nicht Heine’s „letzte Liebe“ gewesen, – aber alle Heine-Forscher und Heine-Verehrer werden ihr Andenken in Ehren halten als das einer anmuthigen Erscheinung, die auf Heine’s letzte Lebenstage einen tröstlichen Schimmer ergossen, des Wesens, an welches Heine vielleicht das letzte Wort in deutscher Sprache gerichtet hat, das seine Lippen gesprochen.

*  *  *

  1. Die von Camilla Selden neu veröffentlichten Briefe sind zwanzig an der Zahl; dazu kommen fünf schon gedruckte; außerdem gehören zu diesen „wohl an hundert Blättern“ noch die Manuscripte der fünf bis sechs Gedichte an die „Mouche“ unter denen einige ziemlich lange, – bis auf eines übrigens längst gedruckt; dieses eine erscheint soeben in einem von mir herausgegebenen Nachtragsband zu Heine’s Werken.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Ein Pseudonym von Elise Krinitz (1825–1896), deutsche Schriftstellerin und Pianistin. Der erste Besuch bei Heine fand am 19. Juni 1855, der letzte fünf Tage vor seinem Tod 1856 statt.
  2. Im Original folgt der Vers: „Du wirst zerstieben, wirst verhallen.“
  3. im Original: wilder
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 314. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_314.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)