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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

„Das war das böse Gewissen. Er liebt eine Andre – oder zum wenigsten ...“

„Sei vernünftig, Maria. Der Schein trügt; und wenn’s schon wahr ist, daß Dein Verlobter allenthalben, wo er sich zeigt, die Mädchenherzen erobert, und wenn’s ihm vielleicht auch schmeichelt, so braucht er deshalb noch nicht selber entflammt zu sein. Im Grunde, wie wär’ es auch denkbar? Du, Maria, bist von Allen die Schönste, und Niemand wirft den Goldgulden weg, um sich nach der Kupfermünze zu bücken. Laß mich nur wissen, was vorgefallen: am Ende löst sich’s klar und natürlich, und es war nur die blinde Eifersucht, was Dich so in Aufruhr versetzt hat.“

Maria schüttelte heftig den Kopf. Die Nothwendigkeit, ihr Märchen jetzt weiter ausspinnen zu müssen, erfüllte sie mit einer Erbitterung, die sich auf Rechnung der erfundenen Treulosigkeit ihres Verlobten Luft schaffen durfte.

„Ich weiß, was ich weiß,“ rief sie stirnrunzelnd. „Salvatore bewirbt sich um die Tochter eines begüterten napoletanischen Bürgers. Ein Brief, den ich aufgefangen – du lieber Himmel, was soll ich das Alles noch weitläufig aus einander setzen! Ich bin arm, Giulietta, und heutzutage geht die Jagd der Menschheit nach Gold ... Selbst die Besten und Edelsten schlagen ihr Herz in die Schanze, wenn es den Mammon gilt. Mich liebt er – das mag schon sein: aber die Andere wird er zum Weibe nehmen!“

Sie erörterte nun mit wachsender Sicherheit, was sie vorhabe. Sie wisse, daß ihr Verlobter heut’ im Albergo zum „Goldnen Kreuz“ mit einem Verwandten des Mädchens eine Zusammenkunft habe. Sie, Maria, wünsche nun in Erfahrung zu bringen, wer diese abscheuliche Napoletanerin sei, und wie weit sich die Sache entwickelt habe.

„Vielleicht,“ so schloß sie, „läßt sich von der Verhandlung der beiden Männer Etwas erlauschen. Es käme nur darauf an, daß Du willst! Sprich, Giulietta: kann ich auf Deine Hülfe rechnen?“

Die Cameriera war alsbald Feuer und Flamme. In Herzenssachen fühlen die Frauen stets solidarisch. Die Entrüstung über den angeblichen Verrath des Apuliers wog alle Bedenken auf.

„Da fällt mir bei,“ sagte sie plötzlich, – „auf heute Nachmittag hat sich ein Signore anmelden lassen – drunten aus dem Calabrischen, wenn ich nicht irre – der könnte es möglicher Weise sein ...! Der das Zimmer für ihn bestellte – so ein Mann um die Dreißig herum – der sagte, bis morgen wolle der Signore hier in Neapel Station machen.“

„So? Und wie sah er aus, der’s bestellte? Schlank? Hager?“

„Schlank und hager, wie ich kaum einen Zweiten gesehn habe! Er ging in Schwarz und trug eine silberne Brille.“

Die Zingarella erkannte unschwer die Persönlichkeit des Polizei-Aspiranten, den Salvatore ihr drei- oder viermal hatte beschreiben müssen. Das Blut stieg ihr heiß in’s Gesicht. Sie meinte im ersten Augenblick, vor einer folgenschweren Entdeckung zu stehn. Dann aber sagte sie sich, der Signore aus dem Calabrischen müsse Seine Eminenz der Cardinal sein, – und diese Maske sei ganz begreiflich. Der Monsignore konnte unmöglich in seiner officiellen Carrosse vorfahren; er mußte incognito eintreffen; sonst würde sein Besuch im Albergo noch ungleich größeres Aufsehn erregt haben, als der Besuch des Apuliers im Palast Seiner Eminenz. – Maria legte sich das Alles zurecht; sie verstand jetzt auch, weshalb der Polizei-Aspirant gesagt hatte: der Signore aus dem Calabrischen werde im Gasthause übernachten. Das war unverfänglicher, als ein Absteigen auf wenige Stunden; – nach stattgehabter Besprechung konnten ja „unvorhergesehne Ereignisse“ eintreten, die eine sofortige Weiterreise nothwendig machten.

Noch höchlich erregt, stammelte sie allerlei widerspruchsvolle Redensarten.

Der auffällig hagere Mensch sei offenbar einer von den großstädtischen Heirathsvermittlern, die jetzt allenthalben ihr Wesen trieben; Salvatore selber habe ihr zugegeben – das heißt, er ahne ja Nichts – aber ein solcher Seelenverkäufer habe ihn neulich besucht; so glaube sie wenigstes, und nach Allem zu schließen ...

Sie unterbrach sich und schaute ängstlich in das sinnende Antlitz Giulietta’s. Diese jedoch war viel zu sehr von der Hauptsache in Anspruch genommen, als daß sie auf die Einzelnheiten im Verhalten Maria’s geachtet hätte.

„Zingarella,“ sagte sie plötzlich, „weißt Du, daß wir gewonnenes Spiel haben? Hör’ mal zu! Ich sprach vorhin den Facchino: der ist die lebendige Chronik hier im Albergo. Rein zufällig kam die Rede darauf: aber nun seh’ ich, es war eine Fügung des Himmels. Heute bis gegen Abend wird nur das Eckzimmer links in der ersten Etage frei; das aber ist schon wieder von Rom aus bestellt. Kommt also der Signore aus dem Calabrischen, so giebt’s im ganzen Hause kein anderes Zimmer, das er beziehen kann, als die Stube hier dicht neben an. Die Weißzeug-Kammer ist den ganzen Tag über abgeschlossen. Ich lasse Dich also ruhig hier. Wenn Du das Ohr an die Thür legst, wirst Du das Meiste von dem, was im Nebenzimmer gesprochen wird, deutlich verstehen können. Uebrigens halt! Sieh’ mal! Das hab’ ich noch gar nicht bemerkt!“

Sie wies mit dem Finger auf ein schmales, längliches Fenster, das rechts von der Seitenthür über einem der mächtigen Schränke die Wand durchbrach.

Ohne ein Wort zu sprechen, rückte Maria den Tisch herzu, schwang sich darauf, und beugte sich weithin über das verschnörkelte Schrankdach.

„Man überblickt so das halbe Zimmer,“ sagte sie leise. „Aber man wird auch von dort gesehen.“

„Dem läßt sich ja abhelfen,“ sagte Giulietta. „Da, versuch’ mal, ob Du das feststecken kannst.“

Sie nahm von den Stößen der frische Wäsche, die rechts und links auf den beiden Tischen geschichtet lag, einen kattunenen Küchenvorhang; Stecknadeln trug sie in der Tasche des Hausschürzchens.

Mit unsicherer Hand arbeitete Maria an dem Holzrahmen des Fensters herum. Endlich kam sie mit der Befestigung zu Stande.

„So! Hier an der Seite, oben, bleibt gerade ein Spalt frei, groß genug für das Auge. Das war ein kluger Einfall, Giulietta! Den vergeß’ ich Dir nicht. Und nun: strengste Verschwiegenheit!“

„Natürlich! Allein schon um meinetwillen! Wenn man’s erführe, dann könnt’ ich heut’ noch mein Bündel schnüren.“

Einige Zeit noch war Giulietta in der Kammer beschäftigt, während Maria, die Hände im Schooß gefaltet, auf dem Schemel saß und ihr gedankenvoll zuschaute.

Dann sagte die Cameriera:

„Gehab’ Dich wohl! Bis gegen Mittag kann’s dauern, eh’ der Signore hier eintrifft! Laß Dir inzwischen die Zeit nicht lang werden! Bin ich gerade im Treppenbau, wenn er kömmt, so geb’ ich Dir rasch ein Zeichen ...“

„Nein!“ wehrte die Zingarella. „Ich werde schon aufmerken. Halte Dich, soviel Du kannst, in den Zimmern! Ich möchte nicht, daß Dir Salvatore begegnet. Er hat Dich zwar nur ein paarmal gesehn, und vermuthet Dich allenthalben eher, als hier im Albergo: aber er hat ein scharfes Gedächtniß. Er könnte Dich ansprechen, und so das ganze Geheimniß aus Dir herausfragen ...“

„Was Du Dir vorstellst! Aber gut: wie Du willst! Also auf Wiedersehen!“

Sie drehte den Schlüssel um, und steckte ihn zu sich. Dann ging sie an ihre Stubenarbeit.

Kurz nach zehn hatte Giulietta für die zwei Damen auf Numero sechszig eine Bestellung beim Concierge. Mit gewohnter Leichtfüßigkeit rannte sie die breiten Steintreppen hinab. Im Erdgeschoß prallte sie so wider die starke, mantelumhüllte Gestalt eines glattrasirten Signore, den der Zimmerkellner eben nach oben geleitete.

„Corpo di Dio!“ fluchte der Fremdling mit unverkünstelter Vehemenz; denn der Ellbogen Giulietta’s, die ihm ausweichen wollte, war ihm unsanft wider den Magen gefahren.

„Ich bitte die Eccellenza tausendmal um Verzeihung,“ stammelte Giulietta purpurroth vor Verlegenheit. Die Eccellenza jedoch, überwältigt von dem bohrenden Gefühl ihres Schmerzes, krümmte sich, und fluchte dann abermals, und zwar so ganz und gar nicht salonfähig, daß selbst Giulietta, deren Ohr doch an die Kraftausdrücke der Schiffsleute und Fischer gewöhnt war, über die Derbheit des Unbekannten erstaunte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 326. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_326.jpg&oldid=- (Version vom 23.4.2021)