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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


Nach und nach glaubte man, der Ansteckung auf andere Weise beikommen zu können. Man zündete große Holzstöße auf den Straßen an, um die Luft zu reinigen, wie dies noch jetzt in der Campagna geschieht. Man verbrannte grünes Holz, Kräuter etc., um damit zu räuchern. Man erschütterte die Luft durch Kanonendonner und Glockenläuten. Noch unsere Voreltern wendeten zur Verhütung des Erkrankens Aderlässe und Abführmittel an, ein Verfahren, welches sich aus den Tagen des Mittelalters herschreibt, und wenigstens einen schwachen Versuch ärztlicher Ueberlegung repräsentirt.

Erst vom Ende des vorigen Jahrhunderts an beginnen wissenschaftliche Erklärungsversuche für das epidemische Auftreten mancher Krankheiten. Bald ist es das Auftreten gasiger Ansteckungsproducte, bald eine „Gährung“, die man als Ursache der Epidemien ansieht. Aber erst den letzten Jahrzehnten war es vorbehalten, allmählich den Schleier zu lüften, der über diesem Entsetzen verbreitenden, geheimnißvollen Wesen der Seuchen ruht – eine Forscher-Arbeit, die erst zum kleinen Theile gelöst ist, aber in den jüngst verflossenen Jahren bereits die überraschendsten Entdeckungen hervorgebracht hat.

Die kleinsten pflanzlichen Gebilde, Pilze von so winzigen Verhältnissen, daß man sie nur mit den stärksten Mikroskopen, mit künstlichen Beleuchtungs- und Färbemethoden zu erkennen vermag, sind als die Erreger und Verbreiter ansteckender Krankheiten erkannt. Was man Jahrtausende lang als etwas Unfaßbares, Unerklärliches zu betrachten gewohnt war, es ergiebt sich als die enorme Wucherung gewisser pflanzlicher Parasiten, einzelliger kleinster Gebilde, die sich durch Theilung in der Körperwärme so rasch vermehren, daß einer dieser feinen Spaltpilze in einem Tage 16 Millionen erzeugen kann. Es ist dies eine Einwanderung, die den Organismus des Menschen, wenn sie sich dort eingenistet hat, zu Grunde zu richten vermag.

Sonntagmorgen.
Nach dem Oelgemälde von O. Schulz.

Wie im Leben überhaupt, so zeigt sich auch in diesem Falle wieder, daß unbekannte, unsichtbare, kleine Feinde oft viel schlimmer sind, als große, offen entgegentretende. Die letzteren kann man erkennen, vermeiden, selbst bekämpfen. Der auf heimlichen Schleichpfaden sich nahenden, verborgenen Feinde, die weniger durch ihre einzelne Bedeutung als durch ihre Zahl schaden, kann man sich kaum erwehren. Berge der schönsten Rebenpflanzungen, üppig bestandene Kartoffel- und Getreidefelder, gewaltige Wälder werden von ihnen zerstört. Nichts ist vor ihnen sicher; nichts hemmt ihren Lauf. Ein einziger solcher Pllzkeim, der in einem Apfel auftritt, steckt die andern daneben lagernden an; ein anderer rafft das stattliche Rindvieh eines Stalles hin, einem dritten fallen Millionen Krebse oder Seidenraupen zum Opfer. In der Milch, im Brod, im Fleisch, in Allem was wir genießen und was uns umgiebt, ja in uns selbst sind diese Pilze enthalten. Unser Körper widersteht ihnen durch seine Lebensenergie, aber wenn sie sinkt, dann sind diese kleinsten Feinde, denen er Trotz bot, schon auf der Lauer, sind mächtiger als er, und noch ist der Athem nicht entflogen, so haben sie bereits von unserer „irdischen Hülle“ Besitz ergriffen. Nicht immer vermag der Körper den in ihn eindringenden kleinen Mikrokokken (den Rundzellen-Pilzen) oder Bacterien (Oval-Pilzen) oder Bacillen (Stäbchenzellen-Pilzen) Widerstand zu leisten; sie erfüllen seine Gewebe, zerstören sie, und der „Herr der Schöpfung“ muß nur zu oft jener verächtlichen Sippe erliegen, die sich wuchernd, Alles durchdringend, seiner Organe bemächtigt. – In der Pilzlehre oder Parasiten-Theorie ist wahrscheinlich auch für einen großen Theil der ansteckenden Kinderkrankheiten der Schlüssel gegeben. Theils kennt man schon die den einzelnen Krankheiten eigenthümlichen Pilzarten, theils ist man ihnen auf der Spur, und weiß wenigstens, woran sie haften, wie sie in den Körper eindringen, wodurch sie weiterverbreitet werden. Mit der Kenntniß des Feindes wächst die Möglichkeit, sich und sein Haus vor ihm zu schützen. Wenn die Mutter weiß, daß diese ihrem Kinde gefährlichen kleinsten Organismen bei Masern im Blut, in den Thränen, im Nasenschleim, in den Hautschuppen sich finden, bei Scharlach in den letzteren und in den Ausscheidungen, bei Diphtherie in den Belegen, bei Keuchhusten im Auswurf, bei Typhus in den Entleerungen, wenn sie weiß, daß die Luft um den Kranken von ihnen erfüllt ist, so ist damit schon viel gewonnen. Viel, wenn auch noch nicht Alles. Denn bekanntlich sind auch der Boden, das Trinkwasser, das Grundwasser etc. oft Sitz der Krankheitskeime; unsere Umgebung, der wir uns nicht leicht entziehen können, wird uns verhängnißvoll.

Wir kennen also das Wesen der Ansteckung. Wie aber die Krankheits-Erreger auf den Körper übergehen, wie sie sich weiter verbreiten, das muß einer besonderen, zusammenhängenden Betrachtung unterworfen werden.




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 332. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_332.jpg&oldid=- (Version vom 30.4.2021)