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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

doch, wie gewaltig verschieden ist der Sinn der einen von dem der andern! Das ursprünglich allein Richtige ist die sinfluot oder sintfluot, in welcher sin, sint etwas Großes, Ausgedehntes und lange Anhaltendes (vergl. angelsächsisch sinlîf = ewiges Leben und unsere Pflanze Singrün = Immergrün) bedeutet; da nun diese große Fluth der allgemeinen Sündhaftigkeit der verderbten oder zu verderbenden Menschheit halber eintrat, so ward sie dem Volke und selbst den Gelehrten zur Sündfluth, wie sie z. B. in Luther’s Bibel erscheint. Und nicht nur die gedankliche Zusammenstellung der Worte, auch die äußere wörtliche hat diesen Uebergang sehr erleichtert; spricht doch schon Meister Heinrich Frauenlob (gestorben 1318) von menschlîcher sünden sintfluot. Man sieht, von hier aus bis zu der irrthümlichen und doch wieder treffenden Umbildung des Wortes zur Sündfluth konnte nur ein sehr kleiner Schritt sein.

Nicht minder schön hat das Volk sich aus der Erscheinung des „leuchtenden“ Blitzes bei einem fernen Gewitter oder einfach „Wetter“, wie es in Weber’s Freischütz „aufzieht“, die Bezeichnung Wetterleuchten gebildet, ein Wort, das in Schiller’s „Schlacht“ als Wetterleucht erscheint, und das doch in seiner ursprünglichen Gestalt weterleich mit leuchten ableitlich nichts gemein hat, sondern in Folge der Bedeutung seiner letzten Silbe leich lediglich als ein „Spiel“ und besonders als ein certamen, als ein Kampfspiel der Elemente aufzufassen ist. Das Wort leich ist in einzelnen Gegenden Deutschlands noch in der Bedeutung Spiel erhalten, wie denn der Thüringer eine bestimmte Art des Kegelspiels einen Kegelleich nennt. Und wie stolz ist er, wenn ihm nicht im Wortspiele mit „Treff“ (frz. trèfle, lat. trifolium, Kleeblatt), der hier meist Eicheln genannten Farbe der Karte, zugerufen zu werden braucht: „Treff ist Trumpf“; wie erhaben über alle Anderen fühlt er sich, wenn er es versteht möglichst viele Schuren (fälschlich oft jour gesprochen) zu schieben; wie wenig denkt er bei Gebrauch dieses Wortes schieben daran, daß man eigentlich nicht schieben, sondern „scheiben“ (schîben), das heißt die Kugeln rollend fortbewegen sagen müßte, wie der Baier auch richtiger noch spricht, und daß man erst den Sinn des Fortschiebens der Kugel oder Umschiebens der Kegel in das Zeitwort hinein legte, als das ursprüngliche scheiben anfing unverständlich zu werden.

Da wir einmal von den Naturerscheinungen zu den Spielen übergegangen sind, so mag uns zunächst noch das Nürnberger Schönbartspiel darthun, wie willkürlich das Volk oft mit den überlieferten, dem ursprünglichen Sinne nach aber allmählich nicht mehr verstandenen Worten verfährt. So nahe es nun auch liegt, bei Betrachtung des Namens an „schön“ zu denken, so sehr muß doch hervorgehoben werden, daß in der älteren Gestalt des Wortes schemebart der erste Bestandtheil scema, scheme eine oft sogar sehr „unschöne“ Larve oder Maske bezeichnet, daß der Name also für ein Spiel gebraucht sein will, dessen Theilnehmer in meist bärtigen Gesichtsmasken auftreten.

Und wem wäre nicht das namentlich in unserer Kaiserstadt beliebte Kümmelblättchen bekannt! Aber hast du wirklich, wenn du je diesem Spiele zugeschaut, die Spielenden so große Massen des edlen Kümmeltrankes vertilgen sehen, daß dir der Name des Spiels als von dieser Aeußerlichkeit hergenommen erscheint? Viel bezeichnender ist die richtige Ableitung, welche es als ein Spiel mit drei Karten hinstellt und dem Namen das Wort gimel zu Grunde legt, das sowohl den dritten Buchstaben des hebräischen Alphabets bedeutet, als auch für die Zahl drei in dieser Sprache gebräuchlich ist.

Woher leiten unsere verheiratheten Leserinnen die Bezeichnung der vielleicht schönsten Zeit der Ehe ab, den Namen der Flitterwochen? Gewiß wird der in den ersten Monden der Ehe so überaus willfährige Mann sein holdes Gemahl gerade in dieser Rosen- oder, wie der süßlichere Franzose meint, Honigzeit reich mit Flitter und Tand aller Art ausstatten, aber da sich selbstverständlich nur der bemittelte Gatte den Ankauf derartiger zum Theil sehr überflüssiger Gegenstände gestatten kann, so giebt es in der Ehe ärmerer Erdenbewohner überhaupt wohl keine Flitterwochen im eigentlichen Sinne? Wenn wir das Wort von Flitter, Tand ableiten, allerdings nicht; glücklicher Weise aber hat es damit nichts gemein, sondern stammt ab von dem altdeutschen Zeitworte flitarazjan, welches „schmeichelnd liebkosen“ (französisch flatter) bezeichnet, und vermöge dessen die Flitterwochen nun zu einer Zeit werden, welche so recht eigentlich die Zeit der Liebkosungen genannt werden kann, gleichviel ob das „gevlitter“ im Palaste des Reichen oder in der sogenannten „kleinsten Hütte“ die liebenden Herzen erfreut.

Vom Scherz zum Ernst! Vielleicht das schönste Beispiel irrthümlicher Umdeutung eines Wortes im Volksmunde, einer Umdeutung, welche dem Worte im Laufe der Zeit einen ungleich tieferen Sinn verliehen hat, als er in der ursprünglichen Gestalt und Bedeutung desselben lag, bietet unser Friedhof dar. Ursprünglich bezeichnete das Wort einen Hof, der in Folge der Ableitung seiner ersten Silbe vom altdeutschen vrîten (schonen) vom Anbau verschont bleiben sollte, der daher auch meist eingefriedigt wurde, in den nur die edelste aller Saaten eingesenkt werden sollte, wie Schiller’s Glocke ernst andeutet, einen „Freithof“, wie der Süddeutsche noch heute etymologisch richtig sagt. Aber im Laufe der Zeit hat ihn unser Volk in irrthümlicher Vertauschung des unverstandenen ersten Theiles des Wortes mit dem naheliegenden vride (Friede) zu einem Hofe umgewandelt, in welchem das Menschenherz endlich den langersehnten Frieden finden soll, den die rauhe Welt da draußen ihm nimmer geben kann.

Und nun „zu guter Letzt“ sei dieser Redensart selbst gedacht. Wenn schon ganz ungezwungen in ihr der Sinn des „Letzten“, des Endes einer Handlung zu liegen scheint, so hat sie doch mit diesem Letzten nichts zu thun, sondern stammt ab von letze, der Abschied, ein Wort, das seinerseits wieder dem letzten Geschenke oder Trunke sein Dasein verdankt, mit welchem der Scheidende sich noch einmal letzte; ist doch dem Schweizer die letzi noch heute der Abschiedsschmaus, und die Letzipredigt eine Abschiedspredigt. Unsern Volksliedern ist die Redensart „Jemandem etwas zur Letze lassen“ besonders als „beim Scheiden ein Andenken hinterlassen“ bekannt, und ihre letzte Anwendung in der Schriftsprache unserer Classiker dürfte sie in den Worten Wieland’s gefunden haben:

„Wie sie zu guter Letze
Den goldenen Becher mir bot.“

Dr. Söhns.     

Blätter und Blüthen.

Die Schneeziege. (Mit Abbildung S. 337.) Die Schneeziege (Capra lanigera) gehört zu den charakteristischsten Thiererscheinungen der nordamerikanischen Wildnisse, sie steht so vereinzelt unter ihren Verwandten da, wie die gleichfalls dort hausende Gabelgemse, und wenig Kunde von ihr ist bisher noch zu uns gekommen, ja selbst in unseren Museen ist sie fast noch gar nicht vertreten. Sie wird zu den Halbziegen gezählt, da ihr rundes kantenloses Gehörn sie den Antilopen nähert, aber ihr sonstiger Bau ist ganz ziegenartig. Auch in der Größe kommt sie unserer Hausziege gleich; doch ist die Behaarung anders, denn außer am Vorderkopfe und den Ohren ist das ganze Thier mit einem dichten und langen Pelze bedeckt. Die Färbung ist durchgehends gelblichweiß. Eigenthümlich ist eine vom Nacken bis zum Schwanzende gehende, sehr scharf abgegrenzte Mähne, die dem Thiere ein wildes Aussehen giebt und es auch viel größer erscheinen läßt, als es in Wirklichkeit ist.

Die Schneeziegen bewohnen den nördlichen Theil des Felsengebirges und sind besonders häufig im Quellgebiete des Columbiaflusses. Hier hausen sie im Sommer in den höchsten Regionen dieser wilden Berge und weiden die spärlich vorkommenden Flechten, Moose und Alpenpflanzen, am liebsten an der Grenze des ewigen Schnees, ab, um bei drohender Gefahr sogleich in der mit ihrem Kleide so gleichfarbigen Schneewildniß zu verschwinden. In kühnen Sätzen geht es dann über Schluchten und Grate, in raschem Galopp oft an den Rändern schauerlich gähnender Abgründe vorbei, indem ein Thier hinter dem andern hergeht, geführt von einem alten Bocke. Sie klettern und springen mit außerordentlicher Gewandtheit und Sicherheit und scheinen dabei kaum den Boden zu berühren. Diese Behendigkeit, verbunden mit großer Vorsicht und sehr scharfen Sinnen, macht es dem Menschen äußerst schwierig, ihr beizukommen, und nur sehr leidenschaftliche Alpenjäger und dann und wann Indianer stellen ihr nach. Letztere auch nicht mehr so, wie früher, da selbst diesen wenig verwöhnten Naturkindern der starke Bockgeschmack des Fleisches nicht zusagt und das Pelzwerk, welches früher viel getragen wurde, aus der Mode gekommen ist und daher schlecht bezahlt wird.

Außer dem Menschen hat die Schneeziege noch Bär, Luchs und Wolf zu fürchten, auch macht ihr zuweilen das weit stärkere Berg- oder Dickhornschaf die Weideplätze streitig. Nur ungern und von der äußersten Noth des strengen Winters gezwungen, verlassen die Trupps ihre sicheren

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 338. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_338.jpg&oldid=- (Version vom 8.3.2024)