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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

seine Hände möchte ich mein Amt niederlegen. Dieser Wunsch muß mit Delicatesse behandelt werden; Du, Gusta, bist aber vielleicht im Stande, durch den Günstling für Deinen Bruder zu wirken; man darf kein Mittel gering achten, das Familienwohl zu fördern! Politesse also, mein Kind, Zuvorkommenheit, aber in den angedeuteten Grenzen!‘

Ich verneigte mich mit einem: ‚wie der Herr Papa befiehlt!‘ und verließ nach seinem Winke das Zimmer?

Was sie von mir wollen, sehe ich klar genug, Christel, der Speck soll ich sein, um für den Bruder die Maus zu fangen; ich soll seinetwegen mit Doctor Goethe liebäugeln, pah! ich weiß, was ich will, und werde mein eignes Vergnügen bedenken: ist er schön, gefällt er mir, wie sein ‚Weither‘, so gehorche ich, wie weit, das ist meine Sache.

Ich schaute, als ich die Treppe hinanstieg, in’s Gastzimmer, da war Alles auf das Beste hergerichtet; ein Wachslicht auf dem Leuchter und zwei Flaschen Wein, wenn sie in der Nacht kämen. Als ich an das Fenster trat und in den Hof hinaus sah, bemerkte ich, daß man sehr gut in mein Stübchen im Seitenflügel blicken könne; also kann ich auch sein Fenster übersehen. Und nun rathe, Christelchen, warum ich nicht gleich her kam, um Dir Alles zu erzählen; rathe, was ich Wichtiges zu beschaffen hatte?“

Das stille, blonde Mädchen lächelte; „nun?“ fragte sie entgegen ohne sonderlichen Eifer.

Auguste ertrug die Ruhe der Freundin schwer:

„Rathen wirst Du es doch nicht, Du harmlose Taube!“ rief sie, „so wisse denn: ich kramte mein Zimmer um! Vor das bewußte Fenster trug ich mein Nähtischchen, auch das Spinnrad, Stuhl und Bank; ich schürzte die Vorhänge etwas höher, rieb die Scheiben klar, und ersah; mir eine Ecke, von der aus ich auch ungesehen hinüberspähen; konnte; dann nahm ich ‚Werther’s Leiden‘, sein himmlisches Buch, bei dem wir so oft süße Thränen weinten, und setzte mich, in Vorgefühlen schwelgend, auf den neuen Platz. Daß ich in dieser Nacht, wo er jeden Augenblick ankommen konnte, nur halb schlief, wirst Du begreifen! Endlich, als kaum der Tag graut, tönt ein Posthorn, ich höre das Knarren der schweren Hausthür, des Bruders Stimme auf dem Corridore, Thüren werden geschlagen, Koffer werden die Treppen herauf geschleift. Bebend vor Kälte und Erwartung stürze ich im Dunkeln an’s Fenster – da wird drüben das Zimmer hell – man hat Licht angezündet? –“

„Und Du hast ihn gesehen?“ rief Christel, sich rasch aufrichtend und mit flüchtigem Roth übergossen.

„Zwei Schatten habe ich gesehen, welche sich die Hände schüttelten, dann ging mein Bruder hinaus und die Treppe hinab nach seinem Zimmer; und nun kommt das Beste: er trat an das Fenster und sah sich um; aber das Licht stand hinter ihm, ich gewahrte nur eine Silhouette und auch die nur kurze Zeit und undeutlich, aber getrost, heute werde ich ihn ordentlich sehen! Christel, begreifst Du meine Freude? Mit ihm, dem Dichter des Werther, unter einem Dache!“

Es war schwer zu fragen, ob Christel begriff oder nicht; sie hatte die Arme über den Kopf gelegt, die großen blauen Augen mit träumerischem Ausdruck hinauf in die Falten des weißen Bettumhangs gerichtet. Als sie die Antwort schuldig blieb, wurde Auguste ungeduldig.

„Du bist stumm wie ein Fisch!“ rief sie, „warum sitze ich noch hier? Vielleicht kann ich ihn am Fenster sehen, es ist hell genug! Adieu mein kleiner Fisch, mein Goldfisch!“ fügte sie tändelnd hinzu, indem sie eine gelbblonde Locke der Freundin um den Finger rollte, rasch Christel’s weiße Stirn küßte und ebenso lebhaft, wie sie gekommen war, aus dem Zimmer eilte.

Die Zurückbleibende machte keinen Versuch, ihren munteren Gast länger festzuhalten; unbeweglich lag sie da, wie geistesabwesend. Dieser seltsame Zustand hatte sich in ihrer Kindheit oft bis zur Erstarrung gesteigert; jetzt überfiel er sie mehr wie waches Träumen; Fühlen und Denken flossen in einander. Ein süßes unklares Schauen, dem sie sich nicht entreißen mochte, trug sie weit über alle Wirklichkeit hinaus, bis sie gewaltsam aufgerüttelt oder durch zufälliges Geräusch geweckt, wieder zu sich kam und verwundert, manchmal weinend um sich blickte.

Christine von Laßberg war die einzige Tochter des weimarischen Obersten Maximilian von Laßberg. Ihre Mutter, eine Schwedin, war bei der Geburt dieses jüngsten Kindes gestorben. Ihre Brüder, bedeutend älter als sie, hatten sobald wie möglich das Haus verlassen; der alte Oberst war als einer der tyrannischsten Hausväter bekannt, und deshalb fühlten sich die Kinder nicht wohl in der Heimath.

Nach dem Tode seiner leidenschaftlich geliebten Frau nahm er seine unverheirathete Schwester, Tante Barbara, in das Haus, eine vortreffliche alte Dame, welche mit der zärtlichsten Sorgfalt die schwache kleine Nichte aufzog. Anfänglich wollte der Oberst nichts von dem Töchterchen wissen; er hatte einen eigensinnigen Grimm auf das blasse Kind geworfen; nach und nach aber, als er bemerkte, wie ähnlich Christine ihrer schönen, blonden Mutter wurde, gewann er Theilnahme, ja eine stolze Freude, an dem Mädchen. Sie war jetzt siebenzehn Jahre alt und ohne alle Beschränkung aufgewachsen. Weder Vater noch Tante hinderten sie in ihren Neigungen, und harmlos genug waren ja dieselben.

Ihre Freundschaft mit Auguste von Kalb war mehr durch die Verhältnisse, als aus Uebereinstimmung entstanden. Die Häuser der Eltern lagen neben einander, ebenso die Gärten, letztere nur durch eine Stachelbeerhecke getrennt, in der das unbändige Gustchen, stets die Besuchende, manches Stück ihrer Kleidung hängen ließ. Sowohl der alte Kammerpräsident wie der Oberst waren zu hochmüthig oder zu eigensinnig gewesen, um eine Verbindungsthür herstellen zu lassen.

Sie waren Leute der alten Zeit; sie lebten in ihren abgesonderten engen Schneckenhäusern, aus denen sie kaum hervorkrochen, um sich an einem allgemeinen, öffentlichen Interesse zu sonnen. Die Nachbarschaft hatte dazu gedient ein gewisse Spannung zwischen den beiden Häusern zu bilden, welche ihre Nahrung in einem ähnlichen Streben und gehässigen Beobachtungen gefunden hatte. Der Kammerpräsident von Kalb war Excellenz und gründete darauf Ansprüche, welche dem alten, derben Haudegen Laßberg übertrieben vorkamen. Den Kalbs schien alles zu gelingen, während es bei Laßberg vielen Kummer und Verdruß gegeben hatte. Seine Frau war früh gestorben, seine Söhne hatten in Unfrieden das Haus verlassen; die Kalb’schen Söhne dagegen waren gut untergebracht; der jüngere, als Kammerjunker beim weimarischen Hof angestellt, hatte sich vor drei Jahren mit einer reichen Frau vermählt.

Wo man vergleicht, ist der Neid nicht fern; die beiden Herren waren echte Vergleichsbrüder; sie konnten eine Schaar vom Glück begünstigter Leute unbeneidet vorüber gehen sehen, sowie aber dem einen von ihnen Gutes geschah, wurde der andere verdrießlich. Bei dem alten, zeitweise unbeschäftigten Laßberg hatte sich nachgerade eine bittere Stimmung festgesetzt, welche in schlimmen Stunden den Groll über das Schicksal auf den Nachbar übertrug.

Am 3. September dieses Jahres 1775 war die Mündigkeitserklärung des neunzehnjährigen Karl August erfolgt. Die Herzogin Mutter hatte ihm freudig die Geschäfte der Regierung übergeben, sich selbst in das Privatleben zurückziehend. Ihr Einfluß auf den Sohn und ihre Sorge für denselben blieben aber unablässig rege. Sie glaubte den kräftigen, unbändigen Jüngling am leichtesten durch eine Heirath zu zähmen, und vermochte ihn, sich am 3. Oktober mit der reizenden Landgräfin Luise von Hessen-Darmstadt zu vermählen. Das junge Paar war seit vier Wochen in Weimar und der Hofstaat für dasselbe eingerichtet.

Anna Amalie hatte ihrer Schwiegertochter zwei junge schöne Hofdamen abgetreten, die anmuthige, neckische Adelaide von Waldner und die verständige Henriette von Wöllwarth; sie selbst war vorderhand ohne Gesellschaftsfräulein. Diese Stellung bei der allverehrten Herzogin wünschte Laßberg für seine Tochter.

Zufällig hatte Anna Amalie sich tadelnd gegen ihn über Auguste Kalb ausgesprochen und der Oberst die Gelegenheit ergriffen, nach einem väterlich bescheidenen Lobe der Tochter, Christel als Hofdame zu empfehlen. Er wagte sich offen mit seinen Wünschen hervor, da er jetzt wußte, daß „die gefallsüchtige Kalb“; nicht vorgezogen werden würde.

Die Herzogin hatte sich unbestimmt geäußert, Laßberg sah, daß alles auf einen persönlichen Eindruck der Tochter ankomme, und erbat sich die Ehre, sein Kind auf dem nächsten Ball der hohen Frau vorzuführen. Anna Amalie bewilligte diesen Wunsch freundlich. Seitdem gab es keinen andern Gedanken, kein anderes Gespräch im Hause des Obersten, als Christel’s Aussichten, als

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 374. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_374.jpg&oldid=- (Version vom 10.10.2022)