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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Barons Louis Wilhelm von Göchhausen durchaus unangemessen gefunden, nicht bei Hof zu erscheinen; dies waren aber auch die einzigen Gelegenheiten für ihn, mit Menschen zu verkehren.

Außerdem widmete er den ganzen Tag seinen beiden einzigen Leidenschaften: der Ordnungsliebe und der Reinlichkeit, Tugenden, welche in seiner Uebertreibung Untugenden wurden und neben einer großen Sparsamkeit ihn ganz beherrschten.

Es konnte keine Tageseintheilung regelmäßiger sein als die des Oberkämmerers. Rohrmann erschien im Winter und Sommer um sechs Uhr, trug auf einem Teller ein Glas Wasser und sagte: „Guten Morgen, Herr Baron, es ist Aufstehenszeit!“

Dann erhob sich Herr von Göchhausen, trat unbedingt mit dem rechten Fuße zuerst auf die Erde, hustete dreimal – er wäre lieber erstickt, als daß er es sich ein viertes Mal gestattet hätte – und nahm den Schlafrock. Nun wurde der ganze Mann in möglichst gründlicher Weise gewaschen, gebürstet, gebadet, gerieben und abgespült. Dann legte er silbergraue Beinkleider, feine Strümpfe und Schuhe an, eine graue langschößige Weste, folgte, wohlgefältelte breite Jabots, ein steifes weißes Halstuch bis dicht unter die Ohren reichend, sodaß sich der kleine Kopf kaum wenden konnte; ein gleichfalls silbergrauer Rock mit breiten Taschen und glänzenden Knöpfen vervollständigte den Anzug, welchen eine gepuderte Perrücke mit zierlichem Zopf und großen Seitenlocken, sowie ein betreßter dreieckiger Hut krönte. Dann nahm der Baron seinen hohen Stock mit silbernem Knopf und schritt der Hausthür zu, um Punkt acht Uhr auf die Breite Gasse hinaus zu treten und seine erste Morgenpromenade zu beginnen. Auch die Promenade hatte ihren gewiesenen Weg und ihr ganz bestimmtes Ziel, das war die kleine Schleuse am Schwansee, auf welche er dreimal mit dem Stocke schlug und, wie nahe Arbeiter gehört haben wollten, dazu sprach: „Baron Louis Wilhelm von Göchhausen ist dagewesen!“ Dann wandte er sich und kehrte nach seinem Hause zurück. Frau Ursula hatte jetzt eine Milchsuppe und einige Schnitte Weizenbrod bereit, die er mit besonderen Feierlichkeiten genoß.

War der Tag in strengster Gleichmäßigkeit hingebracht, so erschien Abends neun Uhr Rohrmann wieder mit einem Glase Wasser und sagte: „Gute Nacht, Herr Baron, es ist Schlafenszeit!“ – Worauf der Oberkämmerer sich sofort erhob und unter dem Beistande seines Dieners das Lager suchte.

In diese wohlgeordnete Häuslichkeit paßte ein fremdes Element sehr wenig, und doch war es dem alten Herrn beschieden, ein solches bei sich aufzunehmen.

Es war etwa etliche Tage vor Goethe’s Ankunft in Weimar, als der Baron Göchhausen ungewöhnlich erregt in seinem Arbeitsstübchen auf und ab schritt. Er hielt die Bewegung zu dieser Stunde für ungesund und zürnte sich selbst deshalb, noch mehr aber der Veranlassung seiner Unruhe.

„Es geht nicht! Es geht nicht, und es geht nicht!“ murmelte er auf- und abschreitend in verschiedener Betonung vor sich hin. „Seit ihr Brief da ist, Wallungen, Unruhe, Zerstreutheit; wie soll das werden? Es reibt mich auf! – Selbsterhaltung – Nothwehr! O ihr schrecklichen Weiber! Und in einer halben Stunde!“ seufzte er stehen bleibend, die Stirn trocknend und den Blick mit verzweifelndem Ausdruck auf eine dicke silberne Taschenuhr, welche an seinem Schreibtisch hing, richtend, die eben halb acht wies. Einen Augenblick nur zögerte er noch, dann setzte er sich an den Tisch, ergriff einen langen Gänsekiel und begann zu schreiben.

„Ich werde ihr sagen,“ murmelte er, „daß meine Gesundheit mir verbietet, Besuch zu empfangen, daß sie Mitleid haben soll mit einem leidenden Greise, daß ich sie anflehe, mir den Embarras nicht aufzuladen; mit diesem Briefe schicke ich Rohrmann zur Post.“

Das Billet war gefaltet, der alte Herr klingelte und Rohrmann’s große knochige Gestalt erschien in der Thür; der Versuch eines Lächelns erhellte das pergamentartige Gesicht, als sein Herr voll überredender Güte zu ihm sprach:

„Seh Er diesen Brief, Rohrmann, derselbe muß in die Hand eines jungen Frauenzimmers gelangen, das um acht Uhr mit der Gothaischen Post ankommt. Sie will uns besuchen, heißt Luise von Göchhausen, und Er weiß selbst, Rohrmann,“ fügte er, seine, schwimmenden Aeuglein mit kläglichem Ausdruck nach oben kehrend, hinzu, „daß ich zu leidend bin, um Damenbesuch anzunehmen; wende Er also diese Incommodität von Seinem armen Herrn, und sag Er der Person mündlich, daß sie partout wieder abreisen müsse!“

Rohrmann verschwand und der Baron athmete erleichtert auf. Er begann wieder ruhig und behaglich zu werden, konnte still sitzen, schob die Feder hinter das Ohr und studirte jetzt, da er die Gefahr als beseitigt ansah, mit Muße zwei vor ihm liegende Papiere. Der Anmeldebrief seiner Nichte lautete:

„Karlsruhe, den 15. Oktober 1775.

      Theurer Oheim, Vormund und Gevatter!

Es hat sich in dieser mit Gott hinschleichenden Zeit begeben, daß Ihrer submissest Unterzeichneten Nichte – wie Einliegendes ausweist – der Stuhl vor die Thür gesetzt worden. Selbige schaut sich um in der weiten Welt und gewahrt, daß ihr verehrter Oheim in Weimar der Einzige ist, welcher gegründete Ansprüche, an ihre Person zu erheben hat. In edlem Gerechtigkeitseifer und nach dem Spruch: gebt Jedem das Seine! ist sie entschlossen, ihr Dasein dem Wohl und Penchant des ihr unbekannten, aber verehrten Herrn zu widmen.

Morgen verlasse ich Karlsruhe – das keine Ruhe mehr für mich bietet – am zweiten November mit der Gothaischen Post in Weimar anzukommen! – Bis dahin Geduld, o Sehnsucht!

Ergebenst und gehorsamst, cher oncle, Ihre devoteste

Luise von Göchhausen.“

„Das muß ein übermüthiger Satan sein,“ murmelte der alte Herr, nachdem er den Brief wieder gelesen hatte, dann nahm er das zweite Schreiben vor; es war ein großes mit markgräflichem Siegel versehenes Document und enthielt die Entlassung der Hofdame Luise von Göchhausen aus dem Dienste Ihrer Durchlaucht der Frau Markgräfin von Baden.

„Was mag sie nur für kniffliche Sachen angezettelt haben?“ fragte sich der alte Herr kopfschüttelnd. „Eine solche Hexe sich in’s Haus nehmen, brrr!“

In diesem Augenblicke ging unten die Glocke der Hausthür; „Rohrmann schon wieder da?“ dachte der Baron erstaunt und lauschte. Leichte Schritte eilten die Treppe herauf; der Oberkämmerer erbleichte, ein Zittern befiel ihn, ängstlich blickte er auf die Thür – sie wurde geöffnet und herein trat ein rasches kleines Frauenzimmer.

Sie war es! Die unabwendbare, gefürchtete Nichte, Luise von Göchhausen stand vor ihm. Und wie! Spöttischen Ernst in den geistreichen Augen, ein ironisches Lächeln um den großen Mund auf dem leichtgepuderten Haare einen weißen Musselinhut und über den braunen Reiserock ein grasgrünes Mäntelchen geworfen. Die ganze kleine Gestalt, etwas verwachsen, schien zu sagen: ja, sieh mich nur an! übersehen sollst Du mich nicht!

„Da bin ich, cher oncle!“ rief sie munter und griff nach seiner Hand, um sie zu küssen.

„Hast Du meinen Brief nicht bekommen?“ stotterte er.

„Gewiß, mein theurer Oheim!“ entgegnete das junge Mädchen, „und sein Inhalt beflügelte meine Schritte; den Leidenden zu pflegen, zu unterhalten, wird meine künftige Lebensaufgabe sein!“

Ein Schauder überlief den Oberkämmerer. „Ich kann das nicht acceptiren,“ sagte er nach Festigkeit ringend.

Luise trat zurück. „Warum nicht?“ fragte sie.

„Weil, weil –“ stammelte er, „weil ich Dich nicht kenne – und –“

„Nicht kenne?“ betonte sie scharf; ein tiefer, trauriger Ernst sank wie ein Schleier über das lustige Gesicht „Der einzige Bruder meines Vaters, mein Vormund, mein Pathe kennt mich nicht? Großer Gott, wer kennt mich denn? Dann bin ich ganz allein und verlassen auf der Welt!“

Eine augenblickliche Pause trat ein; dem alten Baron brach der Schweiß aus, es erschreckte ihn furchtbar, daß er für ein Wesen außer sich sorgen solle, ja vielleicht Theilnahme dafür gewinnen könne. Er wollte diesen ersten selbstlosen Anwandlungen entfliehen und polterte heraus:

„Warum macht Sie unnütze Streiche? Warum wird Sie fortgejagt?“

Wie Sonnenschein flog es bei diesen Worten über die Züge des Mädchens.

„Es war ein sehr guter Spaß, cher oncle,“ sagte sie, ein Auflachen kaum unterdrückend. „Um Vieles möchte ich den nicht ungeschehen machen!“

„So trag’ die. Folgen!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 390. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_390.jpg&oldid=- (Version vom 10.10.2022)