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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

„Ich muß wohl.“

„Ich weiß nicht, was Du beginnen willst, denn in meinem Hause ist kein convenabler Aufenthalt für Dich. Du kannst ja nach Frankreich zu den Verwandten Deiner Mutter gehen.“ Aufathmend nach diesem Auskunftsmittel ließ er sich wieder in seinen Sessel vor dem Schreibtische gleiten.

Luise hockte zu seinen Füßen, auf einem Actenkasten und sagte: „Wie ist es möglich, daß mein Oheim von dem Ableben aller jener Verwandten nichts weiß?“

„Ein Sachwalter hat Dein kleines Vermögen unter Händen – an ihn schickte ich Alles, was von Dir einlief, nur Deinen letzten Brief bekam ich von ihm zurück,“ stotterte er.

Sie sah ihn verächtlich an. „Gut!“ sprach sie endlich ernsthaft, „kann ich nicht bei Ihnen bleiben, so, muß ich mich allein durchschlagen. Die Straße, in welcher Sie wohnen, hat mir gefallen, es wird irgendwo, etwa gegenüber, ein Zimmerchen zu vermiethen sein; dahin ziehe ich und arbeite, weil ich sonst kein Brod habe; ich werde Putzmacherin und schaffe mir ein Schild an, auf dem mit großen Buchstaben zu lesen ist: Luise von Göchhausen, Nichte, Mündel und Pathe des Herrn Barons Oberkämmerer von Göchhausen, bittet um gütigen Zuspruch als – Putzmacherin!“

Empfindlicher hätte sie ihn nicht treffen können; seinen Namen preisgeben, das vertrug er nicht! Er putzte das Licht und wandte es, um ihr Gesicht anzusehen: ob sie ihren Vorschlag ernstlich gemeint habe. Er saß da in seinem abendlichen grauen Ueberwurfe, mit den dicken Locken, den hervortretenden Augen und der langen Schreibfeder hinter dem Ohre, wie ein grau bestaubter Käfer, der prüfend sein Fühlhorn ausstreckt.

Sie dagegen glich mit ihrer kleinen, kecken Gestalt und in ihrem grünen Mäntelchen einer lustig zirpenden Grille.

„Oder,“ fuhr sie unbekümmert fort, „wenn es hier einen Hofbäcker giebt, könnte ich in seinem Laden verkaufen; vielleicht würde das seine Kundschaft vergrößern!“

Dem Baron Und Oberkämmerer schauderte es. Er rieb sich die Stirn und rang seine wohlgepflegten Hände. Sie ließ ihn, mit lachenden Seitenblicken, in selbstgeschaffenen Leiden zappeln.

Endlich sagte er: „Mir geht ein Licht auf; eine wahre Inspiration! Ihre Durchlaucht die Frau Herzogin Wittwe hat die bisherigen Hofdamen der jungen Herzogin Luise abgetreten und sieht sich nach einem Gesellschaftsfräulein um. Wenn ich meinen Einfluß aufbiete, hoffe ich Dir die Préférence zu verschaffen!“

Luisen gefiel dieser Vorschlag. Der Ruf der Herzogin Anna Amalia, als einer muntern und geistvollen Dame, war nach Karlsruhe gedrungen, und die Verhältnisse des weimarischen Hofes waren in den dortigen Kreisen oft besprochen; ja, sie hatte die jungen Herrschaften, Karl August und Luise, schon im Herbste dort gesehen. Eine Stellung bei der Herzogin sagte ihr allerdings besser zu, als der Aufenthalt im Hause des ungastlichen Oheims.

„Sie denken, daß es möglich wäre, Onkel?“ fragte sie rasch.

„Ja, ja!“ versetzte er, sein Haupt schüttelnd, soweit die hohe Cravatte dies zuließ. „Wenn nur nicht – dieser Abschied – Deine Bêtisen! Davon darfst Du nicht sprechen. Der Herzogin werde ich sagen, ich habe Dich aus väterlicher Attention aus dem badenschen Dienstverhältnisse enlevirt; so giebt es für uns Beide mehr Lüstre.“

Das junge Mädchen lächelte fein. In diesem Augenblicke schlug es von der Stadtkirche neun Uhr, und gleich darauf trat Rohrmann mit dem Glase Wasser und der allabendlichen Rede: „Gute Nacht, Herr Baron, es ist Schlafenszeit!“ in das Zimmer.

Der kleine Oberkämmerer fuhr wie von einer Wespe gestochen empor; hatte er kurze Zeit seiner Nichte einige Theilnahme zugewandt, so war er jetzt wieder der alte pedantische Egoist.

„Gute Nacht! Gute Nacht!“ rief er forteilend seiner Nichte zu.


4.

Das Gastmahl im Hause des Kammerpräsidenten von Kalb nahm einen sehr befriedigenden Verlauf.

Mit dem Aufwande aller zu Gebote stehenden Mittel war im besten Zimmer die Tafel hergerichtet. Die Kammerpräsidentin hatte mit ihrer Schwiegertochter die nöthigen Küchenanweisungen gegeben und die Dienerschaft angeleitet, während Gustchen für eine gefällige Außenseite und den Schmuck des Ganzen sorgte. Jeder grüne Zweig, den der November noch im Garten gelassen hatte, fiel unter ihrer Scheere, ja sie entäußerte sich sogar einiger Blüthen ihres dunkelrothen Geraniums, um zierliche Sträuße für den Herzog und Goethe zu binden, und gab sich dabei der Hoffnung hin, einen, vielleicht beide Sträuße zu sich zurückkehren zu sehen.

Die gewünschten Gäste waren alle erschienen. Der Herzog hatte seinen Platz neben der Frau vom Hause und der jungen und reizenden Frau von Werthern, die, auf seinen Wunsch von Augusten eingeladen, mit Freuden gekommen war.

Emilie von Werthern, gewöhnlich Milli genannt, war mittelgroß und zart gebaut, ihr lebhaftes, blitzendes Auge, die dunkle, feingezeichnete Braue, die kleine gebogene Nase, der zarte, leidenschaftlich zuckende Mund, das rasch wechselnde Farben- und Mienenspiel machten ein höchst anziehendes Ganze. Man nannte sie kokett und tadelte ihr Suchen und Haschen nach jedem Vergnügen; doch ließ sich zu ihrer Entschuldigung anführen, daß sie mit einem viel älteren, rohen Manne verheirathet und kinderlos war. Ihrer ganzen Anlage nach eine echte Enthusiastin, schien sie zu Allem fähig, wenn ihr Gefühl angeregt wurde. Für und wider Partei nehmend, auflodernd, bebend und jubelnd, liebeselig sich, anschmiegend, war sie zugleich schwankend in ihren Neigungen, zaghaft und zusammensinkend wie ein verlöschendes Strohfeuer. Eine solche Frau übte eine große Anziehungskraft auf den jungen, lebhaften Herzog. Auch dem heutigen Mittage brach die Unterhaltung zwischen den Beiden selten ab.

Dem Herzoge gegenüber saß Goethe zwischen Gustchen Kalb und Wieland. Auguste hatte sich glänzende Erfolge von dem heutigen Mittage versprochen, es blieb aber bei einigen flüchtigen Artigkeiten von Goethe’s Seite, und sie war genöthigt, sich mit den ihr verehrten rothen Geranien zu begnügen oder ihrem andern Nachbar, dem Oberforstmeister von Wedel, ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden.

Goethe’s Theilnahme wurde durch die Bekanntschaft mit Wieland in Anspruch genommen. Obgleich beide Männer im Alter, in der äußeren Erscheinung, im Denken und Leben durchaus verschieden waren, auch schon auf dem literarischen Kriegsfuß gestanden hatten – so fanden sie Beide bei diesem ersten persönlichen Zusammentreffen doch, so viele gleiche Interessen, daß sie sich eifrig mit einander beschäftigten.

Der Hofrath Wieland zählte damals zweiundvierzig Jahre, seine zarte Gestalt, das Saubere, Wohlgepflegte der ganzen Erscheinung hatte ihm den Beinamen „die zierliche Jungfrau“ erworben, ein Titel, auf den er einigen Werth legte. Seit drei Jahren von der Herzogin Mutter nach Weimar berufen, hatte er unter Aufsicht des Grafen Görtz die Erziehung Karl August’s geleitet. Er galt wegen seiner heiteren Milde, seiner freundlichen Herzensgüte und auch als achtbarer Vater einer zahlreichen Familie bei seinem Zöglinge und besonders bei der Herzogin Anna Amalie außerordentlich viel. Man schätzte ihn als Menschen und Dichter gleich hoch und hatte den gegen ihn gerichteten Angriff Goethe’s dem jüngeren Manne übel genommen.

Wieland gegenüber, an der andern Seite der Frau von Werthern, saß der junge Hildebrand von Einsiedel, im Pageninstitute zu Weimar erzogen, seit vier Wochen aber vom Herzoge zum Hofrath ernannt. Welch ein feines, träumerisches Gesicht! welch ein Ausdruck poetischer Versunkenheit in den tiefen, dunklen Augen! Welch zierlich anmuthige Gestalt mit nachlässiger Haltung! Zerstreut spielten seine Finger mit einigen Brodkrumen oder bogen die herabhängenden Enden seiner weißen, spitzenbesetzten Cravatte in kleine Falten. Seine künstlerische Begabung war nicht unbedeutend; er liebte leidenschaftlich die Musik, spielte Violoncell mit Meisterschaft, componirte und sang, auch versuchte er sich in der Poesie, fertigte Gelegenheitsgedichte und dramatische Sachen. Die Bekanntschaft mit dem vielbesprochenen Goethe interessirte ihn, und er folgte mit großer Aufmerksamkeit der Unterhaltung ihm gegenüber.

Neben Einsiedel auf der andern Seite saß der Pagenhofmeister Musäus, jetzt Professor am Gymnasium. Ein vierzigjähriger, heiterer, harmloser Mann, aller Uebertreibung und Gefühlsschwelgerei abgeneigt; er hatte Mancherlei geschrieben und beschäftigte sich jetzt damit, die Volksmärchen der Deutschen zu sammeln und auf seine Art zu überarbeiten. Lebhaft betheiligte er sich an den literarischen Streitfragen und polemisirte eifrig gegen Lavater, dessen Lehren damals die Gemüther beherrschten und auch in Weimar enthusiastische Anhänger fanden.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 391. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_391.jpg&oldid=- (Version vom 10.10.2022)