Seite:Die Gartenlaube (1884) 394.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Endlich wurde das Mahl aufgehoben Und darauf die Unterhaltung in Gruppen vertraulich weiter geführt.

Der Herzog sprach noch, an einem Fenster stehend, mit Frau von Werthern, als Wieland mit gerötheten Wangen und begeistert blitzenden Augen zu ihnen herantrat.

„Welch ein Mensch!“ rief er lebhaft. „O mein theurer gnädiger Herr! Was soll ich Ihnen sagen? Wie ganz dieser Wolfgang beim ersten Anblick nach meinem Herzen war! Wie verliebt ich in ihn bin, seit ich mit diesem herrlichen Jünglinge geredet habe! Ja, meine Seele ist seit dem heutigen Mittage so voll von Goethe, wie ein Thautropfen von der Morgensonne!“

Karl August lächelte vergnügt.

„So ist es recht, mein alter Mentor,“ entgegnete er. „Liebt Euch, vertragt Euch und laßt mich mit in Eurer Liebe froh sein!“

Goethe trat in den Garten hinaus; es wurde ihm – umringt von dem jubelnden, aufgeregten Kreise, als dessen Mittelpunkt er sich fühlen mußte – zu eng und warm im Saal.

Gustchen Kalb huschte mit einem Gluthblick an ihm vorüber. Draußen schien es den beiden Erhitzten milder geworden zu sein.

Einladend lag der Garten da, beglänzt von den letzten Strahlen der scheidenden Sonne. Das Bosquet war durchsichtig kahl; rothe und gelbe Blätter flatterten an den Zweigen oder tanzten im Luftzuge auf dem Rasen.

Goethe fühlte, daß er seine hübsche Nachbarin während des Mittagsessens vernachlässigt habe, und deshalb folgte er ihr rasch.

Nach wenigen Schritten hatte er sie eingeholt und fragte jetzt geschickt das Blatt wendend: warum sie ihn fliehe?

Das junge Mädchen entgegnete schmollend: „O, um Ihnen nicht lästig zu werden!“

Sie sah recht frisch und anziehend aus in diesem Augenblicke, mit dem verdrießlich schelmischen Zug um den vollen Mund und dem unter gesenkten Wimpern hervorblitzenden Auge.

Goethe lachte und antwortete: „Soll man Ihnen glauben, daß Sie sich dieses zutrauen? Ich will Ihnen zum Trost sagen, daß dem nicht so ist. Sie sind reizend, Gustchen, und wenn Sie sich mir entziehen, so laufe ich Ihnen nach durch die halbe Welt und hole Sie ein.“

„Versuchen Sie’s!“ rief sie neckisch und flog durch die blätterbestreuten, raschelnden Gartenwege. Er folgte ihr, und obgleich sie nicht schnell und gewandt lief, so dauerte es doch einige Minuten – vielleicht wollte er es so – bis er sie einholte.

In einem kleinen Tannendickicht fing er sie, hielt sie mit beiden Armen fest, und versicherte, er werde sie nicht eher loslassen, als bis sie zur Strafe für ihren Zweifel und den Gedanken an die Möglichkeit, ihm lästig zu werden, sich mit einem Kuß ausgelöst habe.

Gustchen wand und wehrte sich freilich, aber ein Blick in seine Augen machte sie gefügig, und sie erwiderte den Kuß des schönen Jünglings mit warmer Hingabe. Dann begann sie auf’s Neue zu fliehen, und wer weiß wie oft sich das lohnende Spiel mit Haschen und Pfandgeben noch wiederholt hätte, wäre nicht plötzlich Christel Laßberg am Fenster des Nachbarhauses erschienen. Auguste war einen Augenblick erschrocken, trat aber dann mit Goethe unter das Fenster der unerwünschtem Lauscherin; hinauf nickend und winkend rief sie, in einer Anwandlung gutmüthiger Rücksicht für die Freundin, Christel möge in den Garten kommen. Gustchen führte den Genossen durch die Stachelbeerhecke.

„Was soll ich mit andern Mädchen?“ rief er halb zürnend, „genug, wenn ich Sie habe, liebes Gustchen; das blasse Mondscheingesicht am Fenster gefiel mir nicht.“

„Wir machen ihr ein Vergnügen,“ versetzte sie ihres Vortheils wohlbewußt; „das arme Ding lebt da wie im Käfig und ist so träumerisch und harmlos, daß wir plaudern können, was wir wollen, wenn wir bei ihr sind.“

Am Brunnen vor der Gartenstube traf man sich. Auguste hatte die Freundin nicht falsch beschuldigt; Christel erschien wortkarger und in sich versunkener denn je. Sie saß theilnahmlos und mit niedergeschlagenen Augen auf einer Stufe zur Seite.

Die Blicke des erregten jungen Mannes kehrten unbefriedigt von dieser farblosen Knospe zu der strahlenden Blüthe an seiner Seite zurück. Nach wenigen Versuchen, Christel mit in die Unterhaltung zu ziehen – welche alle an ihrer scheuen Einsilbigkeit scheiterten – vergaß man ihrer Nähe und gab sich einem Geplauder hin, das durch den gewährten Kuß an Wärme und Ungezwungenheit gewann und beide Theile gleich gut unterhielt.

Endlich, als es bereits anfing zu dämmern, hörte man im Nachbargarten verschiedene Stimmen, dann den Herzog laut nach Goethe rufen, worauf das junge Paar zur Gesellschaft zurück eilte.

(Fortsetzung folgt.)




Der Sitz des deutschen Reichstags.
Sonst und Jetzt.

Eine historisch-politische Plauderei von Karl Braun-Wiesbaden.
(Schluß.)
Zweites und letztes Capitel.

Wenn wir einen Rückblick werfen auf das am Schlusse des ersten Capitels befindliche Verzeichniß der Städte, welche sich der Ehre erfreuten, während des Bestands des alten heiligen römischen Reiches deutscher Nation den „Reichsconvent“ in ihren Mauern beherbergen zu dürfen, so finden wir: es sind vorzugsweise Reichsstädte des mittleren, des südlichen und des westlichen Deutschland. Nur im Zeitalter der sächsischen Herrscher bewegen wir uns vorzugsweise auf niedersächsischem Boden. Später finden wir fränkische, schwäbische und baierische Städte. Eger und Metz, welche auch ihre Reichstage hatten, gingen später Deutschland verloren. Metz wurde 1871, wie Berthold Auerbach sagte, „wieder unser“. Die weiland freie Reichsstadt Eger ist jetzt böhmisch.

Daß wir in der Zeit vom zehnten bis zum fünfzehnten Jahrhundert Berlin noch nicht unter, jenen Städten finden, ist sehr begreiflich. Im zehnten Jahrhundert war Berlin ein Fischerdorf, und vielleicht Das kaum; im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert herrschte dort noch die nicht allzu culturfreundliche Zeit der Herren von Quitzow, die uns der alte Herr von Klöden in seinem höchst lesenswerthen Buche „Die Mark Brandenburg unter Kaiser Karl IV. bis zu ihrem ersten hohenzollernschen Regenten oder Die Quitzow’s und ihre Zeit“ (Berlin 1846, vier Bände) so anschaulich geschildert.

Dagegen ist es auffallend, in dem Verzeichnisse der Sitze des alten „Reichsconventes“ Wien durch gänzliche Abwesenheit glänzen zu sehen. Dasselbe ist ja doch eine bis in die Römerzeit hinaufreichende alte Culturstätte. Es hatte schon im elften Jahrhundert unter den Babenbergern eine gewisse Blüthe erreicht. Um das Jahr 1440 macht uns Enea Silvio de’ Piccolomini eine glänzende Schilderung des damaligen Wien, seiner Pracht und seines Luxus; und zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts schreibt Antonio de Confinis (Confinii „rerum Ungaricarum“ Decad. IV. Lib. V., 593, 599): „Wien gehört unter die schönsten Städte der Barbaren“. In der That betrachtete sich Wien nicht so recht als zum „Reiche“ im engeren Sinne gehörig. Man sprach dort von „Denen da draußen im Reich“; und lange Zeit hindurch waren die Beherrscher von Oesterreich, Böhmen und Ungarn darauf aus, ihre Lande mehr aus Deutschland heraus, als in dasselbe hinein wachsen zu machen. Die antihabsburgischen Schriftsteller, wie z. B. Hippolytus a Lapide (Philipp von Chemnitz), erheben laut den Vorwurf, das Haus Oesterreich denke überhaupt nur dann an das deutsche Reich und den Reichstag, wenn es Geld von dem Letzteren verlange, um den Krieg wider die Türken zu führen, was doch im Grunde genommen nicht als deutsche, sondern als ungarische Angelegenheit zu beträchten.

Unter den ältesten niedersächsischen Reichstagssitzen finden wir vor Allem die alte vielthürmige monumentale Harz- und Hansastadt Goslar, wo 1884 der hansische Geschichtsverein seine Wanderversammlung abhielt. Neunhundert Jahre früher, 984,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 394. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_394.jpg&oldid=- (Version vom 13.6.2021)