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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


tagte dort die deutsche Reichsversammlung; sie ist überhaupt nicht weniger als dreiundzwanzigmal in der Kaiserpfalz zu Goslar versammelt gewesen. In der Mitte des elften Jahrhunderts wurde dort der Palast der salischen Kaiser erbaut, in welchem von da ab bis gegen das Ende des dreizehnten Jahrhunderts die Reichstage abgehalten wurden. In dieser „Pfalz“ residirten auch häufig die Kaiser. Die Capelle, welche sie an den „Palas“ anbauen ließen, ist eine zweistöckige Doppelkirche. Wir haben in Deutschland ältere Kirchen, aber keinen älteren Profanbau, als diese Kaiserpfalz. Als ich vor dreiundvierzig Jahren zum ersten Mal in Goslar war, befand sich dieses prachtvolle Denkmal ältester weltlicher frühromanischer Baukunst in Deutschland im traurigsten Zustande äußerster Verwahrlosung. Es war Vieles durch Brand zerstört und Anderes drangebaut, was besser weggeblieben wäre. Mehr als hundert Jahre lang war dieses durch seine Architektur so interessante und durch seine Geschichte so ehrwürdige Gebäude als Getreidespeicher und als Holzstall benutzt worden. Kaum aber war das neue deutsche Reich aufgerichtet, da erinnerte man sich auch wieder der Verpflichtungen gegen die gemeinsame Vorzeit, während vorher vorzugsweise nur diejenigen Monumente gepflegt wurden, an welche sich dynastische und territoriale Erinnerungen knüpften. Am 15. August 1875 haben der Kaiser Wilhelm und der Kronprinz die alte Kaiserpfalz in Augenschein genommen, und seitdem schreitet deren stilgerechte Restauration in erfreulicher Weise vorwärts. Bereits jetzt steht der Bau äußerlich vollendet da und macht einen mächtigen Eindruck. Demnächst wird wohl der jetzige deutsche Reichstag einmal einen Ausflug nach Goslar machen, um zu sehen, wie und wo seine Vorfahren vor fast tausend Jahren getagt haben. Goslar war auch ein Hauptsitz des Bergbaues auf dem oberen Harze. Kaiser Otto I. soll damit begonnen haben, nachdem das Pferd seines Jägers durch Zufall eine massive Silbererzstufe mit dem Huf aus der Erde geschlagen. Er ließ Bergleute aus dem Frankenlande kommen. Daher rührt es, daß in dem eigenthümlichen Dialekt, den man hier spricht, noch das Fränkische vorwiegt. Goslar war bis 1802 freie Reichsstadt. Seitdem ist es abwechselnd preußisch, dann „westfälisch“, nämlich unter „Jérôme roi de Westphalie“, hierauf hannöverisch und endlich wieder preußisch geworden. Früher eine der reichsten Städte in Deutschland – „Ditissima Saxoniae urbs“ heißt sie in der lateinischen Chronik – ist es seit dem Dreißigjährigen Krieg eine der ärmsten geworden. Jetzt beginnt sie sich wieder zu heben. Eine Curiosität verdient noch erwähnt zu werden: die „Kräuter“-Anstalt des „Naturarztes“ Lampe, wo die Menschen „durch Kunst und Kräuter“ curirt wurden. König Georg von Hannover schwärmte für dieselbe. Jetzt steht die Heilaustalt unter wissenschaftlich gebildeten Aerzten.

Wie Goslar die alten sächsischen Zeiten repräsentirt, so ist Nürnberg die Stadt der Franken, Augsburg die Stadt der Schwaben oder Alemannen, Regensburg die Stadt der Baiern oder Bajuwaren.

Nürnberg repräsentirt die Kunst und das Gewerbe; Augsburg, namentlich im fünfzehnten und sechszehnten Jahrhundert, den Sitz der großen Bank- und Kaufleute, den Handel mit Waaren, mit Geld und mit Credit.

Regensburg, wo heute noch der Bischof Bier braut und noch vor Kurzem Fürst von Thurn und Taxis das ausgedehnteste private Land-Transportgewerbe betrieb, das jemals auf dem Kontinente bestanden, ist die Stadt der Grandseigneurs und der Ritter, der Priester und der Monsignori. Sie war zum ständigen Sitze der Reichsversammlung geworden, jedoch erst in der Zeit des Untergangs und der bereits weit vorgeschrittenen „rückschreitenden Metamorphose des Alters“ des heiligen römischen Reiches. Die Reichsversammlung wurde nämlich seit dem Jahre 1663 in Regensburg gehalten, und da ist sie auch zugleich mit dem römischen Reiche im Sommer 1806 gestorben. Gerade sechszig Jahre später starb in dem benachbarten Augsburg der deutsche Bundestag, dessen Rudera sich in das daselbst gelegene, dürch seine reiche Weincollection berühmte „Gasthaus zu den drei Mohren“ zurückgezogen hatten, um daselbst in Ruhe und Frieden zu tagen, oder – was auch sehr häufig geschah – Ferien zu halten. Leider ist dies gut gewählte Asyl vor dem Richterstuhle der Weltgeschichte nicht anerkannt worden, und der Bundestag ist dort verschieden, ohne ein Testament oder irgend welche Aufzeichnungen über seine letzten Tage und Stunden hinterlassen zu haben.

Diese drei illustren Reichsconventssitze – Augsburg, Nürnberg und Regensburg – haben bekanntlich aufgehört, Reichsstädte zu sein. Sie sind baierisch geworden, ohne jedoch ihre glorreichen Erinnerungen zu vergessen.

Während der letzten Industrie- und Kunstausstellung zu Nürnberg, die allerdings recht imposant und zugleich schön war, hörte ich einen patriotischen Nürnberger mit einem Seitenblick auf die politische Hauptstadt München sagen: „Die moralische Hauptstadt ist und bleibt doch Nürnberg.“ Daß indessen die politische Hauptstadt doch eine große Anziehungskraft ausübt, beweist unter Anderem, daß auch die „Allgemeine (die Alemannische) Zeitung“ Augsburg mit München vertauscht hat. Augsburg prätendirt, das Pulver erfunden zu haben. Gewiß ist, daß man in Nürnberg die Glasmalerei gleichsam wieder exhumirt hat. In der von Clemens Jäger in der Mitte des sechszehnten Jahrhunderts verfaßten „Chronik der Stadt Augsburg“ finden wir die Behauptung, im Jahre 1353 habe in Augsburg ein griechischer Jude, des Namens Typsiles, das Pulver erfunden, und von Augsburg aus habe die Pulverbereitung, die Verwendung desselben zu militärischen Zwecken und die Anfertigung von Geschützen ihren Weg durch Deutschland und das übrige Europa genommen. Ich habe das Für und Wider dieser zweifelhaften Nachricht in „Nord und Süd“ (XXV. 75. Seite 376. u. s. f.) erörtert.

Der Anspruch Nürnbergs, die Glasmalerei, die während der jämmerlichen und unglückseligen Zeiten im siebenzehnten und achtzehnten Jahrhundert verschollen, verkommen und vergessen worden war, zum zweite Mal erfunden oder aus ihrem Grabe aufgeweckt und wieder hervorgerufen zu haben, ist dagegen vollkommen begründet.

Im Jahre 1770 wurde in Nürnberg, dem glorreichen alten Sitze deutscher Architektur, Malerei und Plastik, Sigismund Frank geboren, und dieser hat „nach vielen vergeblichen Versuchen endlich im Jahre 1805 jene Schmelzfarben wieder entdeckt, die sich beim Brennen mit dem Glas unlösbar verbinden, ohne dessen Durchsichtigkeit allzusehr zu beschränken.“

Diese culturgeschichtlichen Notizen vorausgeschickt, wende ich mich nun insbesondere zu Nürnberg.

Der alte Sebastian Münster sagt, Nürnberg liege zwar in einer sandigen und ziemlich unfruchtbaren Gegend, aber, fügt er hinzu, „gerade darum hätten die Nürnberger ihre spitze Vernunft desto fleißiger auf subtile Werke und Künste geworfen, und das Bauernvolk um die Stadt herum genieße desto fleißiger die sterile Natur des ungeschlachten Erdreichs durch Arbeit.“

Schon um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts aber schreibt Enea Silvio de' Piccolomini, der hochgebildete und anspruchsvolle Italiener, später als Papst Pius II. geheißen, dessen ich oben bei Wien schon gedachte, die Stadt habe etwa 80,000 Einwohner, von welchen ein Jeder „besser wohne und lebe, als die Könige Schottlands“. Aeneas kannte Schottland aus eigner Anschauung.

Nürnberg im Süden und Bremen, Lübeck und Danzig im Norden, sind heute noch die monumentalsten Städte in Deutschland. Obgleich in Nürnberg Manches zerstört und Anderes zwar wiederhergestellt ist, aber, wie mir scheint, nicht immer ganz richtig, zeigt uns dennoch auch noch sein heutiger Anblick, wie imposant es gewesen sein muß, als die deutschen Kaiser auf der „Burg der Noriker“ residirten und in der Stadt die Reichsversammlung berathschlagte.

Die prachtvolle gothische Kirche mit ihren architektonischen, plastischen und malerischen Kunstwerken, mit ihrem Helldunkel im Innern, mit ihren prachtvollen Glasmalereien die uns die Wappen jener Patricier zeigen, welche eine so ehrenvolle Rolle gespielt haben und von welchen heute noch einige Familien existiren und an den großen Ueberlieferungen ihrer Vorfahren festhalten; – die interessanten alten Häuser, mit festungsartigem Erdgeschosse und Pechnasen über den Eingangsthüren, wie bei den florentinischen Palazzi, mit vielfachen Freskomalereien auf den äußeren Wänden und jenen malerischen und zierlichen Erkern, welche hier „Chörlein“ genannt werden; – die stattliche Burg auf dem höchsten der Hügel (Nürnberg behauptet nämlich, und ich will es weder bestätigen noch bestreiten, es liege auf zwölf Hügeln, also noch fünf mehr, als das alte Rom!) mit ihrem runden Thurme, ihrem fünfeckigen Thurme und dem „Lueg in’s Land“; – die

zahlreiche Thürme im Innern der Stadt (es sollen deren vormals

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 395. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_395.jpg&oldid=- (Version vom 13.6.2021)