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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


Die Kindheit eines Riesen.

Von Johannes Scherr.
I.

Das falbe Frühlicht vom 9. November des Jahres 1620 beschien die flache Küste von Neu-England da, wo das Kap Cod in die See vorspringt. Es war ein rauher Spätherbsttag, Vorbote eines zeitig eintretenden Winters. Der kräftige Hauch des Morgenwindes regte die Gewässer der Bai zu rauschendem Wellengang auf und jagte die Nebelschwaden durch das dichte Gezweige der Tannen, Fichten und Wachholderbäume, aus welchen der jungfräuliche Urwald bestand, der das Gestade weithin bedeckte. Ueber der Oede von Land und Meer lastete ein bleigrauer Himmel, und Himmel und Erde, Luft und Wasser vereinigten sich zu einem trostlosen Bilde von Verlassenheit und Unwirthlichkeit.

Da regte sich draußen auf der Wassersteppe etwas wie der Flügelschlag einer großen Möve. Dann näherte sich das weiße Geflatter mehr und mehr, und so jemand am Ufer gestanden, hätte er bald den aus dem Gewoge auftauchenden schwarzen Rumpf eines Barkschiffes gewahren können, welches unter vollem Segelwerk vom Osten daherkam, um hierauf, in die Bai eingelaufen, vorsichtig die Segel zu reffen und zu laviren, wie ungewiß, wo es einen guten Ankerplatz finden könnte.

Das Schiff hieß die „Mayflower“ (Maiblume), welche am 6. September aus dem Hafen von Plymouth in England ausgelaufen und jetzt nach einer langen und mühsäligen Fahrt über den Ocean an der Küste von Neu-England angelangt war. Sie hatte an ihrem Bord 120 Auswanderer, Männer, Frauen und Kinder zusammengezählt, und die Männer waren jene „Puritaner“, welche im Verein mit ihren Spuren folgenden Glaubens- und Schicksalsgenossen die Neu-Englandstaaten, also den eigentlichen Kern der Vereinigten Staaten von Nordamerika, gegründet und denen ihre Nachfahren den patriarchalisch-pietätvollen Ehrennamen der „Pilger-Väter“ (pilgrim fathers) gegeben haben.

Und mit Fug und Recht durften sie so heißen. Denn sie „pilgerten“ ja, in ihrer Sprache zu reden, aus dem „Gosen der Unterdrückung“, wozu ihnen ihre Heimath England geworden war, nach dem „Lande der Verheißung“, in die pfadlose Fremde, voll von Mühsalen, Entbehrungen und Gefahren, aber für sie eine Stätte, allwo sie hoffen durften, frei zu sein von prälatischer Unterdrückung und königlicher Verfolgung. Im Kopfe die Bibel, deren Inhalt ihnen göttliche Offenbarung war, in der einen Hand Axt und Spaten, in der andern Büchse und Schwert, so gingen diese Männer, geschnitzt aus demselben angelsächsischen Eichenholz, aus welchem ein Cromwell und seine „Eisenseiten“ gehauen waren, an ihre Gründerarbeit, vielleicht die glorreichste, welche jemals gethan worden ist auf Erden. Denn – so hat die deutsche Geschichtschreiberin der Kolonisation von Neu-England[1] wahr und treffend bemerkt – „kein Staat in der Welt kann sich einer so rein moralischen Basis rühmen wie diejenigen der nordamerikanischen Freistaaten, die jetzt unter dem gemeinsamen Namen von Neu-England begriffen werden[2]. Ruhmsucht, Herrschbegierde und der edle Drang nach Unabhängigkeit haben Reiche gestiftet, Ehrgeiz und Golddurst haben neue Regionen entdeckt und erobert; aber keines dieser Motive, wie Großes sie auch sonst immer hervorgebracht, hatte Antheil an dem Entschluß des Häufleins heldenmuthiger Männer, die das Vaterland mit einer Wildniß vertauschten, um Gott einen Tempel zu bauen, in welchem allein sie ihn nach ihrem Gewissen anbeten zu können glaubten, und in Formen, die sie allein dem Höchsten wohlgefällig glaubten.“

Wer waren diese überzeugungstreuen Idealisten, diese kühnen Sektirer, diese „Puritaner“, in deren Gedanken und Gefühlen das Diesseits und Jenseits des christlichen Glaubens eng sich verwob und welche darum ihren Tempel auch zu ihrem Staat, ihr religiöses Vorstellen zugleich zur höchsten Norm ihrer politischen und socialen Existenz zu machen suchten und wußten? Es waren Männer und Frauen, die, zumeist aus dem Mittelstande Englands hervorgegangen, an der Gestaltung, welche die Reformation in ihrem Lande gewonnen, also an der anglikanischen Hof- und Staatskirche („high church“) keinen Gefallen und kein Genüge gefunden und deßhalb von dieser Kirche sich getrennt hatten. Die Entstehung des Puritanismus ist fraglos den wichtigsten weltgeschichtlichen Thatsachen beizuzählen. Nicht allein, weil der Puritanismus die große englische Revolution durchkämpfte, welche mit der Hinrichtung Karls des Ersten, des meineidigen Stuarts, ihre Höhepunkt erreichte, sondern auch und noch mehr darum, weil der Puritanismus es war, welcher die politischen Konsequenzen der Reformation zog, indem er die transatlantische Demokratie stiftete.

Es gibt bekanntlich wenige Dinge, die schmutziger wären als Ursprung und Verlauf der Reformation in England. Ein wüster Tyrann, der Weibermörder Heinrich der Achte, vollzog aus Wüstlingsmotiven den Bruch mit dem päpstlichen Stuhl, welchen er noch kurz zuvor gegen Luther vertheidigt hatte. Das ganze Reformwerk beschränkte sich vorerst darauf, daß der dicke Heinz sich zum englischen Papste machte. Denn im übrigen wurde so ziemlich der ganze römisch-katholische Apparat noch beibehalten: Fegfeuer, Anrufung der Heiligen, Abendmahl in einer Gestalt, Bilderverehrung, Ohrenbeichte, Todtenmessen, Priestercölibat. Erst unter Heinrichs Nachfolger Edward dem Sechsten wurde das Reformwerk weiter geführt. Dann kam der große katholische Rückschlag unter der Regierung der „blutigen“ Mary und diesem folgte wiederum der reformistische Vorschritt unter der Königin Elisabeth. Im ganzen und großen macht die englische Reformation einen sehr unerquicklichen Eindruck. Sofern sie in Gestalt der Umbildung des Katholicismus zum Anglikanerthum, d. h. zur Hochkirche, zur englischen Hof- und Staatskirche, sich darstellt, war sie in dogmatischer Beziehung eine Halbheit, in socialer geradezu eine Gemeinheit. Denn die sklavenhafte Ergebung, die kriechende Schmeichelei, die lumpige Heuchelei, womit wir in dieser Periode die ungeheure Mehrheit der Engländer, vorweg aber die englische Aristokratie, die Aussprüche und Ansprüche ihrer jeweiligen Könige und Königinnen als unfehlbar anerkennen und religiöse Grundsätze oder wenigstens Bekenntnisse wechseln sehen wie Handschuhe, haben in der ganzen Geschichte des Christenthums an Schmach kaum ihres Gleichen. Es war den Puritanern vorbehalten, ihre Landsleute jenes Heldenthum des Glaubens und der Ueberzeugung zu lehren, welches nicht allein, so es sein muß, freudig in den Tod geht, sondern auch alle Kräfte des Lebens aufbietet, um über entgegenstehende Meinungen und Mächte den Sieg zu erlangen.

Der Puritanismus hatte übrigens nicht England zur Geburtsstätte. Sein Ursprung war vielmehr ein festländischer. Unter dem Schreckensregiment der blutigen Maria waren mehrere Hunderte von Engländern, welche sich nicht zum römischen Papismus zurückbekehren lassen wollten, nach dem Festland entwichen und diese Flüchtlinge, worunter sich Männer von hoher Bildung, von Rang und Reichthum befanden, hatten in Frankfurt a. M., in Straßburg, Basel, Zürich und Genf die Anschauungen und Lehren Luthers, Zwingli’s und Kalvins kennen gelernt. Demzufolge waren sie einer tieferen und strengeren Auffassung der Reform in Lehre und Kult zugeneigt worden, als der Anglikanismus sie bekannte und wollte. Unter der Regierung Elisabeths wieder heimgekehrt, fanden sie sich demzufolge bald im Widerspruch zur Hochkirche. Sie ihrerseits forderten eine kirchliche Genossenschaft, welche, wie sie sich ausdrückten, „pur und simpel“, nach den Vorschriften des Urchristenthums, des apostolischen Christethums eingerichtet und geleitet werden sollte. Heißsporne unter ihnen standen auch nicht an, die Hof- und Staatskirche als antichristlichen Papismus zu bezeichnen und dieselbe ein „prälatisches Mastschwein“ zu schelten. Man kann sich leicht vorstellen, wie die Ausschlachter dieses „Mastschweins“, die anglikanischen Erzbischöfe, Bischöfe und Dechanten, unter sothanen Umständen gegen die Puritaner gesinnt sein mußten. Denn also nannte man die Sektirer, vonwegen

  1. Therese Adolfine Robinson, geb. Jakob aus Leipzig, genannt Talvj: „Geschichte der Kolonisation von Neu-England“ 1847.
  2. Massachusetts, New-Hampshire, Vermont, Maine, Rhode-Island, Connecticut.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 410. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_410.jpg&oldid=- (Version vom 14.7.2021)