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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


Die Kindheit eines Riesen.
Von Johannes Scherr.
(Schluß.)
II.

Zwischen der Art und Weise, wie Mittel- und Südamerika durch Eroberer und Ansiedler von romanischer Rasse und Nordamerika durch Einwanderer und Ansiedler von germanischer Rasse kolonisirt worden sind, bestand ein schroffer Gegensatz. Man hat denselben auf die bündige Formel gebracht: Gold und Weizen – und ich erweitere diese Formel um etwas, indem ich ihren drei Worten drei andere anfüge: Abenteuer und Arbeit.

Bei den Spaniern und Portugiesen – theilweise auch bei den Franzosen, wenigstens in Westindien – war alles auf waghalsige Abenteuer und auf rasche, glänzende Erfolge gestellt, welche hinwiederum die Erraffung von möglichst viel Gold als höchstes Ziel verfolgten. Die germanischen Kolonisten dagegen steckten sich von Anfang an Ziele, welche nur mittels dauerhafter Arbeit erreicht werden können. Sie gingen auf die Gründung von Ackerbaustaaten aus, und weil der Ackerbau allzeit und überall die solideste Basis von Staatsgebilden war und ist, so überholten die in ihren Anfängen so ärmlichen germanischen Kolonieen im Verlaufe der Zeit an wirklich großen und bleibenden Erfolgen ihre romanischen Mitbewerber weit. Man sehe nur, was die Spanier aus Mittel- und Südamerika gemacht haben und was die Angelsachsen aus Nordamerika zu machen verstanden. Die Losung: Arbeit und Weizen! mußte es über die Losung: Abenteuer und Gold! davontragen. Es konnte gar nicht anders kommen.

In der Zeit von 1621 bis 1627 war die Kolonie Plymouth in langsamem, aber stätigem Vorschritt begriffen. An mancherlei Drang- und Trübsalen fehlte es freilich nicht, und im ganzen war die Existenz der Ansiedler ein unausgesetztes und hartes Ringen um des Lebens Nothdurft. Die Tag- und Jahrbücher dieser und der anderen ältesten Ansiedelungen überhaupt haben etwas Rührendes und Herzgewinnendes, wenn sie die täglichen Geschehnisse in diesem schweren Kampf ums Dasein erzählen. Das Wollen und Thun, alle die schlichten Erlebnisse und Erfahrungen der Pilgrime, dieser trefflichen, aufrichtig und wahrhaft, wenn auch einseitig und fanatisch frommen Männer und Frauen, treten uns menschlich viel näher als alle die farbenprunkenden Abenteuer der spanischen „Conquistadoren“ in Mexiko und Peru. Mitunter spricht uns in den Aufzeichnungen der Pilgerväter auch ein idyllisch-schalkhafter Zug wohlthuend an. So, wenn der tapfere Standish, nachdem er seine Gattin Rose durch den Tod verloren, sich nach einem Ersatz umsieht und als seinen Brautwerber den stattlichen jungen John Alden zur schönen Jungfrau Priscilla Mullins schickt. John entledigt sich gewissenhaft seines Auftrags und spricht warm für seinen Freund, den Captain Shrimp. Priscilla nimmt in Gegenwart ihres Vaters den ehrenden Antrag entgegen, blickt zu Boden und schweigt eine Weile. Dann hebt sie die Augen, sieht den Freiwerber lächelnd an und sagt: „Aber, John, warum sprecht Ihr denn nicht lieber für Euch selbst?“ Der glückliche John schreibt sich das hinter die Ohren, überbringt den abschlägigen Bescheid des Mädchens seinem Auftraggeber und verheiratet sich unlange darauf mit Priscilla. Captain Shrimp speit Feuer und Flamme, ergibt sich aber in die vollendete Thatsache, findet unter den neuen Ankömmlingen aus dem Mutterland ebenfalls eine passende Gattin und später haben er und John Alden ihre Kinder einander zur Ehe gegeben. Auch an komischen Zügen fehlte es nicht, obgleich dieselben nur uns Nachgeborenen komisch vorkommen mögen. So waren z. B. die Hergänge, als die Puritaner von Plymouth mit dem Sachem (Häuptling) des ihnen zunächst wohnenden Indianerstannnes in Verbindung traten, wobei ein Indianer, Squanto geheißen, den Dolmetscher machte. (Er war nämlich durch die Mannschaft eines englischen Schiffes, welches früher diese Küsten angelaufen, entführt worden, hatte in England englisch gelernt und war mit den Pilgrimen in sein Heimatland zurückgekehrt.) Der gemeinte Sachem, Massasoit benamset, stand dem Stamme der Wampanogen vor, einem Zweige der Pokanoketen. Eines Tages, im Frühling von 1621, erschien er mit einem Gefolge von 20 „Kriegern“ in der jungen Ansiedlung. Sein An- und Aufzug hatte nicht die geringste Aehnlichkeit mit der prunkvollen Erscheinungsweise der Herrscher von Mexiko und Peru, wie diese dem Cortez und dem Pizarro entgegentraten. Massasoits Erscheinung entsprach ganz dem Unterschiede zwischen den indianischen Völkerstämmen von Nordamerika und den indianischen Kulturstaaten der Azteken und der Inkas. Dem bettelhaften Auftreten des Sachems durchaus analog waren die ärmlichen Veranstaltungen der Pilgerväter, dem „rothen Heidenkönig“, wie sie ihn betitelten, einen „imponirenden“ Empfang zu bereiten. Die feierliche Aufnahme des mit rothem Ocker bemalten und in ein Büffelfell gehüllten „Königs“ in einer Blockhütte, wo ein verschossener grauer Teppich und vier mangelhafte Kissen zurechtgelegt waren, als der Governor der Kolonie mit seinem Gaste eintrat, während draußen etliche puritanische Jünglinge sich abmühten, mittels einiger alten Trompeten und Trommeln einen erschrecklichen Lärm zu machen – diese Haupt- und Staatsaktion hatte etwas Hochkomisches. Um so mehr, als der rothe Heidenkönig vor Verwunderung und Verblüffung am ganzen Leibe zitterte und, als ihm ein Glas „Feuerwasser“ (Branntwein) kredenzt wurde, einen so herzhaften Schluck that, daß ihm die Schweißtropfen über das rothbemalte Gesicht rollten und er sich vor Angst nicht zu fassen und zu lassen wußte. Im übrigen war diese Zusammenkunft sehr ernst zu nehmen; denn während derselben kam ein Friedens- und Freundschaftsvertrag zwischen den Kolonisten von Plymouth und dem Sachem zustande, dessen Wohnsitz, d. i. Standlager Montaup auf einer Landzunge sich befand, welche weit in eine Nebenbucht der Narragansettbai hineinreicht.

Die Urwälder und Prairieen von Neu-England – und weiterhin von Nordamerika überhaupt – waren von größeren und kleineren Völkerschaften der rothen Rasse bewohnt, deren Vorschreiten in der Kultur und deren Bestand sogar gehemmt und selbst in Frage gestellt wurde durch die unaufhörlichen Fehden, welche sie unter einander führten. Ihre Hauptnahrung lieferten Jagd und Fischerei, doch verbanden sie damit einen dürftigen Ackerbau, Maisbau, welchen jedoch die Frauen ausschließlich besorgten. Denn der rechte rothe Mann kümmerte sich ja bloß um Jagd und Krieg. Ihre religiösen Anschauungen waren sehr unbestimmt, doch hatten sie die Vorstellung von einem guten Geist („Manitu“) und von einem bösen („Machinito“), der, wie jener, auch andere Namen führte. Ihr Gottesdienst erhob sich nicht über die Stufe läppischer Zauberei. Ihre politische Verfassung konnte mehr eine aristokratisch-republikanische als eine despotisch-monarchische heißen. Denn die Macht der Sachems oder Sagamors war durch den aus Unterhäuptlingen bestehenden Rath sehr beschränkt. Die sogenannten indianischen „Nationen“, von welchen in der Geschichte Nordamerikas häufig die Rede ist, waren Bündnisse, zu welchen mehrere verwandte Stämme sich zusammenthaten, Eidgenossenschaften, deren es bei der Ankunft der Puritaner in Neu-England daselbst fünf gab: die Pokanoketen, unter denen der Stamm der Wampanogen die Führung hatte, die Narragansetter, die Connecticuter (Pequoden und Mohikaner), die Massachusetter und die Pawtuketter. Mit allen diesen „Nationen“ hatten die Kolonisten während der ersten fünfzig Jahre des Bestehens der Neu-Englandstaaten zu thun, in Freundschaft und Feindschaft. Aber vornehmlich waren es die Wampanogen, die Pequoden und die Narragansetter, welche in die Geschicke dieser angelsächsischen Gemeinwesen eingegriffen haben.

Neu-Englandstaaten? Ja wohl. Denn bald gab es solche. Mit dem Wachsthum der Kolonie Neu-Plymouth verbreitete sich auch ihr Ruf. Drüben im Mutterlande ließ die verschönernde Ferne den bescheidenen jungen Pflanzstaat im Lichte eines „neuen Kanaans“ erscheinen und demzufolge machten sich Scharen von Puritanern, gegen welche ja unter der Regierung Karls des Ersten die Verfolgung nicht rastete, nach dem „Lande der Verheißung“ jenseits des Weltmeers auf die Wanderfahrt. Schon i. J. 1630 wurde von solchen puritanischen Auswanderern mit verhältnißmäßig nicht unbedeutenden Mitteln die Kolonie Massachusetts gegründet, welche ihre ältere Schwester Plymouth bald überflügelte und ihren Hauptort Boston rasch zu einer mächtigen Hafen- und Handelsstadt aufblühen sah. Von dieser epochemachenden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 434. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_434.jpg&oldid=- (Version vom 14.7.2021)