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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

No. 27.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Herrin von Arholt.
Novelle von Levin Schücking.


Unter den eben aufknospenden Baumreihen der Ringstraße Wiens – zwischen Kolowrat- und Stubenring – ging an einem sonnigen Apriltage um die Mittagsstunde ein junger Mann auf den vom Gedränge freien Kieswegen, die Hände auf dem Rücken, langsam dahin und drückte mit einem gewissen Selbstbewußtsein oder jugendlichen Kraftgefühle seine Schritte dem Boden ein. Zu solchem Selbstgefühle schien freilich die ganze Gestalt desselben berechtigt, wenn anders Dinge, welche die äußere Erscheinung bilden, dazu berechtigen können. Der dunkelblonde männliche Kopf war offenbar vor Wind und Wetter nie sehr ängstlich gehütet worden und hatte doch einen vorherrschenden Ausdruck bewegten Geisteslebens in den feinen Zügen und den groß und scharfblickenden blaugrauen Augen bekommen, und mit diesen faßte er die ihm zur Linken über das Trottoir dahin fluthende Menge auf, die Reihe der kunstgeschmückten Paläste und die Erzeugnisse des rastlos nach den schönsten Formen und Farben jagenden Luxus in den Läden. Es war etwas wie eine philosophische Betrachtung, als er sich jetzt sagte, wie wenig anerkannt doch die bewundernswürdige Phantasie von Tausenden von erfinderischen Köpfen bleibe, die all diese Formen und Gebilde erzeuge und diese Farben zusammenstelle, wie unbelohnt alles Das, was von wahrer Kunstschöpfung in diesen Dingen stecke, und welch wunderliche Welt es sei, in der sich so selten die tüchtige Leistung und die gute That lohne, während so unausbleiblich „die Schuld sich räche“, wie Goethe sagt. –

Unser Spaziergänger war wirklich ein Philosoph. Aber jetzt nahm plötzlich eine Erscheinung seine Aufmerksamkeit in Anspruch, wie sie nur ein junger Mann und kein Philosoph so fest ins Auge zu fassen pflegt.

Es war eine Dame in einem dunklen Stoffkleide, einem ebenso einfachen, mit seiner Form noch dem Winter angehörenden Hut, den nichts weiter schmückte, als der grün umhergeschlungene Schleier, und in einem warm die Schultern umhüllenden Tuche. Es konnte zweifelhaft sein, ob das junge Mädchen, das etwa zwanzig Schritte weit vor dem Wandelnden auf dem Promenadenwege stehen geblieben, eine Dame sei oder eine Zofe oder ein Fräulein vom Ladentische. Aber nicht der Wunsch, über diese Frage ins Klare zu kommen, ließ unsern Spaziergänger sie so betroffen ins Auge fassen; auch nicht die auffallende Schönheit der Gestalt, die, sie mochte nun sein was sie wollte, sie zu einem ausgezeichneten Modell für jeden Bildhauer machen mußte. Es war ihr feines, von wenig Farbe angehauchtes geradliniges Profil, das ihm auffiel, weil es eine dämmernde, längst halb erloschene Erinnerung in ihm heraufbeschwor. Er nahm dies Profil wahr, weil sie eben vor einer ihr begegnenden Frau aus dem Volke stehen blieb und dabei auf ihre Schulter zurückblickte, auf welche sie eben mit großer Anmuth die feine Hand legte, um das herabgesunkene Tuch höher heraufzuziehen.

Mit der ihr begegnenden, ärmlich und hexenhaft aussehenden Alten sprach sie eifrig und leise und wandte, als er an ihr vorüberschritt, das Gesicht von ihm ab. Wie seltsam deutlich doch die Erinnerung war, welche das Gesicht dieser ihm noch gänzlich fremden Dame in ihm wachgerufen hatte! Bis in seine früheste Jugend reichte diese Erinnerung zurück. Er sah sich in Knabenjacke und Strohhut als etwa zwölfjährigen Knaben mit seinem Erzieher, einem würdigen Candidaten und jetzt längst ehrwürdigen „Pastor auf dem Lande“, in den zu seinem väterlichen Gute gehörenden Wiesengründen, die eine Thalmulde zwischen waldbewachsenen Höhen ausfüllten, umherstreifen. Wie wohl jeden Knaben von regem Geiste erfüllte auch unsern Spaziergänger einst der Trieb, sich allerlei Sammlungen aus der Natur einzuheimsen, und so schritt er, Raban von Mureck, an einem schönen Sommernachmittage über das karge, sonnverbrannte Gras der Fläche, auf der die schon niedersinkende Sonne seine aufgeschossene Gestalt mit der Botanisirbüchse und die höhere des Erziehers mit einer Ledertasche von langen, lächerlich dünnbeinigen Schatten begleiten ließ. Botanisirbüchse und Ledertasche waren ziemlich gefüllt, und man strebte heimwärts, und zwar auf einem Waldwege, der weiter thaläbwärts über eine Mühle führte, wo der Müller eine in gutem Rufe stehende Schenke hielt. Als man den Wald erreicht hatte, der an der Wiesenmulde entlang sich abwärts senkte, und unter dem grünen Laubdache eine Strecke weit dahingeschritten war, sagte der Candidat plötzlich lächelnd:

„Sehen Sie, Raban, da ist die merkwürdigste Pflanze von allen, die wir heute noch gefunden haben – welch wunderliche Pilzgebilde hier im Holze vorkommen!“

Raban war schon auf den seitwärts liegenden kleinen Mooshügel gesprungen, auf dem die entdeckte Pflanze stand, die freilich hier so überraschend erscheinen mußte, als wäre man plötzlich auf die blaue Blume der Romantik gestoßen.

Blau war diese Blume auch, und sah aus wie eine große Glocke über einem schönen schlanken weißen Stengel – aber ein Gebilde der Romantik war sie nicht, sondern nur ein, ganz zierliches freilich, der Schirmmacherkunst – es war ein feiner seidener Sonnenschirm, der mit dem Handgriffe in den moosigen Boden gesteckt worden und nun als Attribut feinster Civilisation hier im

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 441. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_441.jpg&oldid=- (Version vom 16.5.2019)