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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

wilden Walde seine Eleganz den alten grauen Stämmen zeigte, die nicht die geringste Empfänglichkeit für das kokett sich unter ihnen spreizende Ding zu haben schienen.

Raban hatte es aus dem Boden gerissen, und während der Candidat die feinen Quästchen bewunderte, welche an seidenen Schnüren an der Handhabe hingen, sagte der Knabe:

„Es müssen Damen bei einem Spaziergang sich hier aufgehalten und den Schirm vergessen haben.“

„Wir treffen sie vielleicht, wenn wir eilen, noch in der Mühle,“ antwortete der Candidat, „und holen uns einen freundlichen Dank von ihnen.“

So gingen sie denn fürbaß, und nach zehn Minuten hatten sie die Mühle erreicht. Neben dieser, über dem Teich, in den das schäumende Wasser von den Rädern stürzte, lag der Garten mit der langen vorn offenen Laube; und unter dieser stand in der That eine Gruppe von jungem Damen, drei Mädchen im blühendsten Backfischalter, neben einer älteren, sie durch ihre stattliche, wohlgenährte Gestalt überragenden Frau, aber alle offenbar im Begriff aufzubrechen, ihre Handschuhe knöpfend, ihre Tücher umnehmend. Raban eilte eifrig seinem Candidaten vorauf, um noch im rechten Augenblick da zu sein und ihnen das von ihnen im Walde vergessene Kleinod zu überreichen – hochgeröthet stand er plötzlich vor ihnen, und seinen Schirm erhebend sagte er, ein wenig außer Athem:

„Wir fanden das im Walde – es gehört gewiß Ihnen, und Sie sind wohl schon bekümmert gewesen, es verloren zu haben …“

Die jungen Mädchen wandten sich ihm zu, aber sie antworteten nur alle im selben Augenblick mit einem schallenden Gelächter. Selbst die ernst aussehende ältere Dame begann zu lachen – die jungen Mädchen aber schienen Krämpfe vor Lachen bekommen zu wollen.

Raban stand wie mit Blut übergossen. Und dann ging die Verlegenheit, womit ihn dieser seltsame Empfang erfüllte, in etwas wie zornige Gereiztheit über.

„Was lachen Sie denn?“ sagte er, von Einer auf die Andere schauend.

„Juliane, Dein alter Schirm! Es ist gar zu komisch!“ rief eines von den Mädchen aus.

„Es ist ein alter Schirm,“ sagte jetzt die ältere Dame freundlich erklärend, „den wir im Walde zurücklassen wollten – aber der uns mit komischer Hartnäckigkeit verfolgt. Wir haben ihn schon vorher einmal unter einen Strauch gelegt, aber kurz nachher ist uns eine Bauernfrau, die da umher Beeren sammelte, schreiend nachgelaufen gekommen, um uns den vergessenen Schatz wieder einzuhändigen ...“

„Und hat noch einen Groschen als Finderlohn verlangt,“ kicherte das kleinste der Mädchen.

„Verlangen Sie auch einen Finderlohn?“ brach das neben ihr stehende spöttisch aus.

„Haben Sie denn nicht gesehen, daß er sich, gar nicht mehr schließen läßt, und daß die Seide ganz verschlissen ist?“ fiel naseweis das mit Juliane angeredete Dämchen ein.

Raban, der vor Beschämung und Gereiztheit immer röther geworden, biß die Lippen zusammen und wollte den Schirm geärgert weit von sich schleudern, als die dritte, die größte von den Dreien, vortrat und ihn ihm aus der Hand nahm. Sie sah ihn dabei mit einem weichen leuchtenden Blick an und sagte:

„Wir danken Ihnen aber doch – es war ja doch so gut von Ihnen, uns den Schirm so weit nachzutragen – vielleicht ist er auch noch gar so schlecht nicht – geben Sie ihn mir – ich will ihn mit heimnehmen.“

Raban fühlte sich durch diese gütigen Worte aus seiner grausamen Verlegenheit gezogen, durch sie war in die Wunde, die seinem reizbaren Knaben-Ehrgeiz geschlagen worden, so sanft Oel gegossen. Er antwortete, während er den Schirm hergab, nur mit einem Aufblick in das fromme schöne Mädchenantlitz vor ihm – dieses wandte sich aber jetzt rasch ab; sie gingen jetzt fort, die zwei andern noch immer lachend und kichernd, während die ältere Dame mit einer huldvollen Kopfneigung grüßend an dem unterdeß auch angekommenen Candidaten vorüberschritt.

„Marie ist doch immer die Gutmüthige,“ hörte Raban noch Julianen sagen – daß sie hinzusetzte: „wir können den Schirm jetzt da unten in’s Wasser werfen,“ vernahm er nicht mehr, auch nicht Mariens Antwort: „nein, ich hab’ ihm gesagt, ich wolle ihn mit heimnehmen, und muß es jetzt doch auch thun.“

Als sie aus dem Gesichtskreise waren, fragte Raban den Candidaten, ob er die Damen kenne?

Er kannte sie natürlich nicht – aber „der Müller wird sie kennen“, und dieser in der That kannte sie, auch die Frau Müllerin, die bald herauskam, um den neu angelangten Gästen das gewünschte Bier zu bringen. Die Damen waren Niemand anders als die gnädige Frau von Tholenstein zu Arholt mit ihrer Enkelin, dem Fräulein Marie, und die beiden Andern waren Freundinnen von Fräulein Marie oder Cousinen oder so etwas aus der Stadt, die zum Besuche des Fräuleins auf Arholt waren, das nur eine halbe Stunde entfernt lag, sodaß sie öfter Spaziergänge bis hierher zur Mühle machten, – und Fräulein Marie war die reichste Erbin im Lande und würde einmal, da sie keine Brüder hatte und Vater und Mutter todt waren, ganz Arholt und viele andere Güter erben.

Das waren die Auskünfte, die bereitwillig die Müllerin gab – unzulänglicher war die, welche Raban von dem Candidaten erhielt, als er diesen fragte:

„Ist Arholt nur eine halbe Stunde von hier? Dann ist es bis dahin ja auch nur eine kleine Stunde von Mureck, von unsrem Hause. Wie kommt es dann, daß wir die Leute dort nicht kennen – daß der Vater und diese sich nie besuchen – daß bei uns nie die Rede von so nahen Nachbarn ist?“

Der Candidat hatte nichts darauf zu erwidern, als: „Das müssen Sie Ihren Herrn Vater fragen, Raban. Ich kann nicht den geringsten Aufschluß darüber geben.“

Der Candidat hatte ihn niemals darüber reden hören und auch niemals darüber nachgedacht, weshalb der Vater seines Zöglings, der noch in den besten Jahren stehende und der Geselligkeit sonst keineswegs abholde Gutsherr von Mureck, der manchen Verkehr mit befreundeten Familien auf weiter entlegenen Gütern pflog, außer aller Berührung mit seinen nächsten Nachbarn, der Familie auf Arholt, blieb. Vielleicht hätte er sich sonst nach dem Grunde erkundigt und damit freilich nur unnütz seine Zeit verloren; er hätte nichts erfahren, als daß vor Jahren, in der Zeit, wo noch der wunderliche Junggeselle, der Freiherr Martin Tholenstein, bei, der alten Dame, seiner Mutter, auf Arholt gelebt, Herr von Mureck nicht selten dort gewesen, auch die Arholtschen auf Mureck; daß er aber nach dessen Tode bald allen Verkehr eingestellt: augenscheinlich weil einem Manne wie ihm der Umgang mit solch einer alten Dame, wie die Tholensteinsche Großmutter, langweilig und lästig war.

Das genügte ja auch zur Erklärung. Nur genügte es Raban nicht, als er heimgekommen war und so etwas, nachdem er sein kleines Abenteuer dem Vater erzählt, aus dessen eigenem Munde vernahm. Raban hatte ihm sehr lebhaft geschildert, wie gut ihm Marie Tholenstein gefallen habe und wie man ja einmal hinüber fahren könne, nach einiger Zeit, wenn die garstigen Mädchen, ihre Freundinnen aus der Stadt, glücklich abgezogen – der Vater aber hatte ihn sehr nachdenklich angeblickt und dann nach einer Pause sich abwendend gesagt:

„Was gehen Dich die Mädchen an? Spiele, wenn Du willst, mit den Söhnen des Amtmanns und muthe mir nicht zu, mich bei den Weibsleuten auf Arholt zu langweilen! Ich denke nicht daran!“

Damit war die Angelegenheit zwischen Vater und Sohn erledigt – nicht aber aus dem Denken und Sinnen des Knaben das Bild des jungen Mädchens verschwunden. Im Gegentheil, in den nächsten Tagen hatte er gar nichts anders denken können, als wie reizend dieses so fromm dreinschauende junge Wesen sei, wie leuchtend sie ihn angeblickt; er hatte noch fortwährend diese guten blauen Augen sich anleuchten sehen – bis nach und nach freilich, im Laufe all der kleinen, und großen Ereignisse eines Knabenlebens, im Laufe der Tage und der Wochen dieser Glanz erloschen und das ganze Bild allmählich verflüchtigt und verdrängt – wenigstens sehr tief in den Hintergrund solch einer vielbeschäftigten Knabenseele gedrängt war.

Aber seltsam, heute wo Raban als erwachsener junger Mann, der seine Studienjahre hinter sich und von seinem Vater bereits ein Gut zu eigner Verwaltung erhalten hatte, auf der Ringstraße zu Wien spazierte, trat dies Bild mit größter Lebendigkeit wieder vor ihn hin. Er wußte selbst nicht, warum das junge Mädchen, an dem er vorübergegangen und deren Züge er nur flüchtig erblickt hatte, ihn so plötzlich lebhaft an jene kleine Retterin

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 442. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_442.jpg&oldid=- (Version vom 8.7.2022)