Seite:Die Gartenlaube (1884) 474.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

„Es ist da noch,“ sagte er dabei, „wenn Sie nicht genug haben und es Sie interessirt, eine Gruppe in Arbeit, etwas Größeres; das meiste noch flüchtig angelegt.“

Raban war in einen etwas wohnlicher und gemüthlicher ausschauenden Raum eingetreten; die Wände waren mit einigen gewirkten Teppichen, alten Majoliken, hohen Palmenzweigen, die sich aus blauen Japanvasen erhoben, geschmückt; den Fußboden bedeckte ein Teppich; umher standen ein Paar Modellirstühle, auf denen Büsten und Reliefmedaillons aufgestellt waren, und in der Mitte des Raumes erhob sich eine in Thon modellirte Gruppe, eine weibliche Gestalt, die einen sich an sie schmiegenden Knaben mit der Rechten an sich drückte, während die Linke im Begriff war, sich ihm wie segnend auf das von gekräuselten Locken umwallte Haupt zu legen.

Das den Blick leis senkende Haupt dieser Gestalt war von dem Künstler vollständig fertig gestellt, durchgearbeitet und vollendet, während manche übrige Theile der Gruppe noch sehr im Entstehen waren.

Raban aber starrte im höchsten Grade betroffen dieses Haupt an. Träumte er denn – oder ließ eine Art von Zauber ihn überall – nur sie erblicken? Es war aber nicht anders; es war dieses milde lächelnde, engelhafte Haupt der Gestalt, die schützend und segnend den armen Knaben an sich zog, kein anderes als das des jungen Mädchens, dessen Erscheinung ihn so erfüllte und beschäftigte. Es war ihr Haupt in jedem Zuge – nichts geändert, nichts idealisirt – der Künstler hatte – so schien es Raban – nur die Natur zu copiren gebraucht; zu idealisiren war da nichts gewesen; nur das auf dem Hinterkopf zusammen genommene und in einen Knoten geschlungene Haar, das faltig von den Schultern niederfallende Gewand war nach den Bedürfnissen des Künstlers angeordnet.

Raban athmete tief auf, in den Anblick versunken. Dann wandte er sich nach einer langen Pause plötzlich rasch an Wolfgang Melber. Das Herz schlug ihm hoch auf in der freudigen Bewegung darüber, daß er nun endlich seinem Ziele nahe gekommen, auf die Spur dieser bisher unfaßbaren Erscheinung. Doch hatte er das Gefühl, daß er diesem Künstler gegenüber einer gewissen Diplomatie bedürfe; daß er besser thue, nicht direct nach dem Original dieses holdseligen Frauenkopfes zu fragen; es war sicherlich eine Schwester, eine nächste Verwandte, die dem jungen Manne als Modell gedient – das ließ sich ja jetzt, da Raban seine Unbekannte in der Wohnung eines Heinrich Melber hatte verschwinden sehen, ziemlich sicher annehmen. Vielleicht war Heinrich Melber beider Vater, ein Graveur – es paßte zu der gewöhnlichen Erscheinung der Unbekannten, die nun freilich nicht das Mädchen aus den Knabentagen Raban’s sein konnte . . .

„Sie müssen,“ sagte er, „zu dieser Charitas, die ich von einer rührenden Schönheit finde, lange nach einem ganz genügenden Modell gesucht haben! Der Kopf ist Ihnen so wunderbar gelungen.“

„Gesucht habe ich nicht gerade nach einem Modell für diesen Kopf. Er bot sich mir dar – und gerade dadurch bin ich auf den Gedanken gekommen, eine solche Gruppe, die sonst nicht just in mein Fach schlägt, zu versuchen.“

„Er bot sich Ihnen ungesucht dar – in einer Nahestehenden, einer Schwester vielleicht?“ rief Raban lebhaft, wie nun schon seiner Suche sicher, aus.

„Einer Schwester?“ versetzte Wolfgang Melber mit einem Tone von Verwunderung und Spott. „Nein, einer Schwester nicht! Einer Schwester nicht!“ wiederholte er mit einem ganz eigenthümlichen Nachdrucke.

„Aber wo begegnete Ihnen denn ein Gesicht von einem so merkwürdig für Ihre Gestalt passenden Ausdrucke? Ich möchte wissen . . .“

„Was Sie doch nicht interessiren kann!“

„Was mich interessirt,“ entgegnete Raban so stürmisch, daß er sofort die Nothwendigkeit erkannte, auf möglichst gute Art sein Verlangen nach einer Auskunft über die geheimnißvolle Erscheinung, vor deren Thonbild er stand, zu motiviren – „was mich interessirt, ist ein psychologisches Problem; wie kommt ein Wesen, dessen Züge und geistiger Ausdruck von einem so rührenden Gepräge sind, wie dieser Kopf es trägt, dazu, einem Künstler als Modell zu dienen?“

„Zunächst doch wohl,“ versetzte mit einem wie schadenfrohen Lächeln über Raban’s nicht zu verkennende Betroffenheit der junge Bildhauer – „zunächst doch wohl dadurch, daß sie sich ganz merkwürdig gut dazu eignet, zu solch einem Modelle!“

„Nun ja freilich – aber ich meine, wie kommt sie dazu, das zu überwinden, was es dem weiblichen Gefühl doch peinlich machen muß . . .“

„Peinlich? Weshalb? Weshalb soll ein Frauenzimmer es peinlich finden, wenn ein Künstler seine Schönheit bewundert und – nachbildet? Andrea del Sarto und Rubens haben freilich ihre Frauen gehabt, aber Raphael, der weniger glücklich war, wird sich zu seinen Madonnen auch die Modelle haben suchen müssen und wird sie gefunden haben – in Maria de Bibbiena zum Beispiel, ohne daß diese es peinlich fand.“

Raban sah, er kam auf diese Weise Dem, was er ergründen wollte, nicht näher. Ungeduldig fragte er jetzt direct:

„Und Ihr Modell – wer ist es? dürfen Sie mir nicht den Namen einer Person sagen, die mich in so hohem Grade interessirt?“

„Den Namen?“ versetzte der Bildhauer gedehnt und Raban verschmitzt anlächelnd. Es lag in seinem Tone etwas, als ob er eine große Naivetät belehre, als er hinzusetzte: „Unsere Modelle verrathen wir nicht.“

„Auch nicht Dem, der kein Kunstgenosse, kein Concurrent ist?“

„Er könnte immer ein Kritiker, oder ein Freund von Kunstgenossen sein.“

„Was ich nicht bin, weder das Eine noch das Andere.“

Wolfgang Melber blieb bei seinem überlegenen verschmitzten Lächeln.

„Jedes Gewerbe hat seine Heimlichkeiten,“ versetzte er achselzuckend und während der ganzen Unterhaltung in seiner unruhigen Beweglichkeit bleibend und sich hin- und herbewegend.

Raban aber blieb immer fester in seinem Vorsatze, den Schlüssel zu seinem Räthsel, das offenbar hier zu ergründen war, auch zu finden. Die seltsame Verschlossenheit des jungen Bildhauers, von der er nicht wußte, ob sie sich auf wirkliche gute und ausreichende Gründe stütze oder nur aus der Schadenfreude an Raban’s Enttäuschung herfließe, machte ihn nur noch hartnäckiger, noch leidenschaftlicher.

„Wohl denn,“ sagte er, „so will ich in Ihre ‚Heimlichkeiten‘, so wenig nöthig und motivirt sie mir scheinen, weiter nicht eindringen. Aber weil ich nun einmal ein lebhaftes Interesse für den Kopf Ihrer Gruppe gefaßt habe, weil er mich bewegt und rührt, will ich Ihnen einen Auftrag geben, falls Sie Zeit und Lust haben, ihn anzunehmen und bald auszuführen.“

„Die Auftraggeber drängen sich in meinem Atelier nicht gerade so, um mir das unmöglich zu machen,“ versetzte der Bildhauer jetzt offenbar erfreut und mit ruhigerem Blicke auf Raban.

„Nun wohl, führen Sie mir den Kopf in Marmor aus – als Büste – mit einer Schulterdraperie, wie sie Ihnen dazu passend erscheint.“

Der Bildhauer wendete jetzt plötzlich wieder den Blick unstet zur Seite; er sah bald seine Gruppe, bald die Wand jenseits, bald wieder Raban an.

„Nun – wollen Sie?“

„Den Kopf als Büste?“ versetzte Wolfgang Melber nachdenklich – „das gäbe eine Portraitbüste – die ich für Sie ausführen soll?“

„Den Preis hätten Sie selbst zu bestimmen . . .“

„Nun ja – ich glaube schon, daß Sie den Preis – etwa sechshundert Gulden – mehr oder weniger – nicht beanstanden würden . . .“

„Aber Sie nehmen Anstand – weshalb?“

„Weil ich denn doch nicht sicher bin, ob das Modell, wenn es auch zu einer allegorischen Gruppe seinen Kopf hergeliehen, mir damit das Recht gegeben hat, eine Portraitbüste für – einen fremden jungen Herrn daraus zu machen!“

„Sie sind stark in der Erfindung von Schwierigkeiten, Herr Melber,“ sagte Raban geärgert, und doch mit dem Gefühl, daß der Künstler etwas berührt habe, das er als gegründet werde anerkennen müssen.

„Meinen Sie?“ antwortete Wolfgang Melber mit einem ironische Tone. „Doch wohl nicht mehr als nöthig.“

„Und Sie lehnen also ab . . .“

„Ich werde mich hüten, einen solchen Auftrag abzulehnen,“ fiel der Bildhauer ein. „Aber ich kann ihn auch nicht annehmen, bevor ich die Einwilligung des Modells dazu erhalten habe.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 474. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_474.jpg&oldid=- (Version vom 14.7.2022)