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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Muthe die Cholera, diesen gefürchteten Feind des menschlichen Lebens, in seiner giftschwangeren Heimath, in seinen todsprüheden Schlupfwinkeln aufgesucht habe; aber wer gedenkt jener Tausende von Aerzten, die ohne Rücksicht auf Ruhm und Ehre, ohne die treibenden Reize des Kampfes den Kriegern auf dem Schlachtfelde, den Verwundeten und Kranken in Verderben hauchenden Lazarethen ihre todesmuthige Hülfe bringen, oder die täglich, und wie oft ohne Aussicht auf Entgelt und Lohn, ja nur auf Anerkennung und Dank, den Gefahren der Ansteckung durch die bösartigsten Krankheiten, durch Typhus und Ruhr, durch Blattern und Diphtherie, durch Cholera und Pest und viele andere mehr trotzen und mit Einsetzung von Gesundheit und Leben Trost und Hülfe auch in die Hütten der Armen bringen und dem Tode seine schon umklammerten Opfer abzuringen suchen?

Einzelne Aerzte finden in ihrem Wirkungskreise gewiß noch oft solche Anerkennung, dem Stande der Aerzte im Ganzen aber wird sie oft in einer Weise versagt, als sei dieser Stand nur aus Dünkel, Beschränktheit, Eigennutz und Gewinnsucht zusammengesetzt und verdiente Haß und Verachtung statt Dank und Anerkennung. Man sehe nur die übertriebenen Schriften der Antivivisectionisten und vieler Anhänger der sogenannten Naturheilverfahren, deren Methoden der Natur des Menschen weit mehr Gewalt anzuthun pflegen, als die weit überwiegende Mehrzahl der von Aerzten neben Diät etc. angeordneten Arzneimittel, und man sehe nur, wie diese in Verbindung mit Heilschwindlern aller Art nicht blos in die höchsten, sondern, Dank unserer einseitigen, die Natur vernachlässigenden Gymnasialbildung, bis tief in die gebildetsten Kreise hineinreichen und sogar in Parlamenten und Regierungen ihre Fürsprecher finden, – und stelle dem gegenüber, was man bei fast jedem einzelnen Arzte an Berufstreue und Aufopferungsfähigkeit sieht und wie der ganze Stand für die Gesundheitspflege thatkräftig eintritt, die den Aerzten doch ihre Gründung und Förderung theils ganz allein, theils in erster Linie verdankt: das wolle man vergleichen, um sich ein Urtheil zu bilden.

Es soll und kann nicht geleugnet werden, daß die Aerzte einen nicht geringen Theil der Schuld an jenen unerfreulichen Verhältnissen tragen. Nicht daß im Wissen und Können auch die Aerzte fehlgehen, wie jeder Sterbliche auch bei bestem Willen fehlen kann, auch nicht daß in Charakter und Lebensführung Einzelnen berechtigte Vorwürfe gemacht werden können, wie das gewiß nicht seltener in jedem andern Stande vorkommt: das Alles trägt nicht die Schuld, denn es trifft doch nur Ausnahmen: die Hauptsache liegt in einer jetzt glücklicher Weise zum größten Theil überwundenen Entwickelungsphase der wissenschaftlichen und praktischen Medicin.

Die Bibliothek in Wolfenbüttel.
Nach einer Skizze von Ed. Gelpke.

Um die Mitte unseres Jahrhunderts erfuhr ja die Medicin in Folge der sich beinahe überstürzenden Entdeckungen so gewaltige Veränderungen, daß die älteren Aerzte den neuen Anschauungen nicht zu folgen vermochten, während den Neueren auch die Brücke zum Verständniß der älteren Erfahrungen verloren ging. Dort hielt man fest am Alten, weil man das Neue nicht verstand, hier verachtete man das Alte, weil es aus den oft noch so unvollständigen, neuen Lehren nicht erklärt werden konnte. Den anatomischen Veränderungen gegenüber hielt man die alten Mittel und Methoden nicht blos für unwirksam, sondern auch für durchweg falsch, weil man manche Kranke ohne arzneiliche Behandlung nicht schlechter und manchmal sogar besser fahren sah, als die nach den alten Regeln der Kunst behandelten. Die äußersten Ansichten wurden, wie es Menschenart ist, am lautesten und zuversichtlichsten verkündet, das laute Kampfgeschrei erfüllte den Markt, und das Publicum, welches die Gründe nicht zu verstehen, noch zu würdigen vermochte, entnahm aus dem Streite nur so viel, daß etwas faul sei im medicinischen Staate, und erfüllte sich mit Mißtrauen gegen die gesammte Medicin. Und da es viel leichter ist, alles Geglaubte und Bestehende schlechthin zu verwerfen, als selbstdenkend und selbstthätig zwischen Wahrem und Falschem zu unterscheiden, so beherrschten bald die Negirenden und Nihilisten in der Arzneikunst das Feld.

Die Kranken aber, die doch mit Recht nicht blos beobachtet und „diagnosticirt“ oder gar nach ungünstigem Ende „secirt“ werden wollten, warfen sich allem medicinischen Unsinn und Aberglauben in die Arme und suchten von Heilschwindlern und Geheimmitteln die Hülfe, welche ihnen die Aerzte nicht gewähren, oder wenigstens nicht mit der gleichen Dreistigkeit verheißen wollten.

Diese verhängnißvolle Uebergangsperiode der Wissenschaft ist glücklicher Weise jetzt vollständig überwunden, und auch die Praxis, das ärztliche Handeln am Krankenbette, hat jetzt auf wissenschaftlichen Grundlagen einen festen Kern gewonnen, der in der sogenannten innern Medicin kaum weniger erfreuliche Früchte zeitigt, als wie die Chirurgie ungeahnte Erfolge erzielt hat. Die sichere und frühzeitige Erkenntniß der Krankheiten, die genaue Bekanntschaft mit ihrem Verlaufe und mit vielen ihrer Ursachen, sowie die auf solchen Grundlagen theils neu aufgefundenen, theils richtiger gewürdigten Mittel und Methoden zur Bekämpfung der Krankheiten, haben den Aerzten eine Macht in die Hand gegeben, von der man noch vor wenigen Jahrzehnten keine Ahnung haben konnte. Und wenn auch jetzt noch viele Krankheiten, wenigstens sobald sie gewisse Entwickelungsstufen erreicht haben, uns unheilbar erscheinen, manche vielleicht sogar immer unheilbar sein werden, so haben wir sicher in der Kunst sie zu verhüten, ihren Verlauf günstig zu beeinflussen und ihre Leiden und Schmerzen zu verringern und zu mildern, ganz erstaunliche Fortschritte gemacht.

Es liegt auf der Hand, daß der Arzt um so leichter, schneller und sicherer die reichen Hülfsmittel der Wissenschaft anzuwenden vermag, je früher er zu dem Kranken gerufen und je vollständiger er durch Mittheilungen und eigene Untersuchung über die Verhältnisse, die Krankheitsursachen und den gegenwärtigen Zustand des Kranken unterrichtet wird, je aufmerksamer und liebevoller er alle Verhältnisse und Veränderungen aufspürt und verfolgt. Seine Leistungen, die nicht mehr an große Medicinflaschen gebunden sind, wie in der alten Zeit, und oft mehr in hygienischen und diätetischen Maßregeln bestehen, wirken sicherer und vollkommener, wenn das Publicum, und besonders die Kranken, ihm mit Vertrauen und folgsamem Verständniß entgegenkommen.

Zur Wiederanbahnung und Sicherung eines solchen guten, für beide Theile gleich ersprießlichen und erfreulichen Verhältnisses beizutragen, ist die Aufgabe dieser Zeilen, welche bei dem weiten Leserkreise der „Gartenlaube“ eine wohlwollende Aufnahme verdienen dürften.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 526. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_528.jpg&oldid=- (Version vom 11.3.2024)